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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Tritt man von der Westseite an die Stadt, so imponirt sie durch ihre gewal¬
tigen Häuser und die hochgelegene Kathedrale von Se. Pierre; bald aber
verwischt sich im Innern des Häuserknäuels der Eindruck; der Stadtkern ist
wie bei allen älteren Schwestern ein unordentliches Gassenlabyrinth und die
drcilhürmige, in edlem byzantinischen Stile angelegte Hauptkirche ist theils
unvollendet geblieben, theils durch geschmacklose Fortbauten verpfuscht worden.
Genf hat etwas Großstädtisches, ja mehr als manche deutsche Stadt von
60,000 Einwohnern; Genf war seit der Reformation der Hauptsitz des hoch¬
kirchlichen Calvinismus, und dabei eine sehr reiche Stadt -- ist es nicht ver¬
wunderlich, daß es keine einzige hübsche Kirche besitzt? Blos die anglikanische
Kapelle von jüngsten Datum wird als schön gepriesen; ich gestehe aber offen,
daß sie nicht nach meinem Geschmacke ist. Ebensowenig können das Hotel-
dc-Ville, Arsenal und die übrigen öffentlichen Gebäude gelobt werden. Die
Baukunst war eben von jeher der Genfer schwache Seite. Und dies um so
mehr, je länger die Stadt in ihre alten Wälle und Ringmauern eingeklemmt
blieb und es überall an Raum für großartigere Bauten gebrach. Da wurde
im Innern, um dem Bedürfniß einer kräftig wachsenden Population zu ge-
nügen, in die Höhe gebaut, was man nicht in die Breite setzen konnte, und
es thürmten sich jene unheimlichen fünf und sechs Stock hohen Häuser, welche
dem Straßenleben Luft und Sonne entziehen. Die stürmischen Umwälzungen
und James Fazys dictatorischer Mund sprachen endlich nach langem Kampfe
das Delendum aus und die Wälle fielen. Wie sich der Vogel aus dem Käfig
schwang, so schwingt sich das muntere Genf über die alten Pfähle und reiht
auf dem neugewonnenen Boden Haus an Haus, Straße an Straße. Echt
großstädtisch sind die schönen Quais zu beiden Seiten der spiegelklaren Rhone,
die mitten in der Stadt zwei freundliche Inseln bildet und dann auch die schone
RUe de la Corraterie. Ich zweifle nicht, Genf wird in wenigen Jahrzehnten
eine Stadt von 40,000 Einwohnern sein und den Namen eines kleinen Paris
mit Recht tragen. Drängt ja doch ein merkwürdiger Jnstinct in unsrer Zeit
"lies Volk den Städten zu. Von neugegründeten Dörfern hört man selten,
oder auch nur von stark vergrößerten. Was die Landschaften an Volksüber-
fiuß besitzen, strömt entweder den Städten zu oder, wo diese nicht genügsame
Anziehungskraft besitzen und schon in ihrer ganzen Anlage dem Volksinstinct
mie Garantie starken Wachsthums nicht bieten, über Meer. Du wirst nicht
viel von Auswanderung aus den Cantonen Zürich, Waadt, Genf, Basel hören.
Da absorbiren blühende Städte des Landes Ueberfluß an Menschen; aber aus
Graubünden, Glarus, Se. Gallen, Aargau :c. suchen jährlich Hunderte eine
Zukunft jenseit deö Oceans.

Wie wenig andere Städte, hat Genf auf mich den Eindruck einer noblen,
r>"er adeligen Stadt gemacht. Es hat eine schöne, ruhmvolle Geschichte, nicht


Tritt man von der Westseite an die Stadt, so imponirt sie durch ihre gewal¬
tigen Häuser und die hochgelegene Kathedrale von Se. Pierre; bald aber
verwischt sich im Innern des Häuserknäuels der Eindruck; der Stadtkern ist
wie bei allen älteren Schwestern ein unordentliches Gassenlabyrinth und die
drcilhürmige, in edlem byzantinischen Stile angelegte Hauptkirche ist theils
unvollendet geblieben, theils durch geschmacklose Fortbauten verpfuscht worden.
Genf hat etwas Großstädtisches, ja mehr als manche deutsche Stadt von
60,000 Einwohnern; Genf war seit der Reformation der Hauptsitz des hoch¬
kirchlichen Calvinismus, und dabei eine sehr reiche Stadt — ist es nicht ver¬
wunderlich, daß es keine einzige hübsche Kirche besitzt? Blos die anglikanische
Kapelle von jüngsten Datum wird als schön gepriesen; ich gestehe aber offen,
daß sie nicht nach meinem Geschmacke ist. Ebensowenig können das Hotel-
dc-Ville, Arsenal und die übrigen öffentlichen Gebäude gelobt werden. Die
Baukunst war eben von jeher der Genfer schwache Seite. Und dies um so
mehr, je länger die Stadt in ihre alten Wälle und Ringmauern eingeklemmt
blieb und es überall an Raum für großartigere Bauten gebrach. Da wurde
im Innern, um dem Bedürfniß einer kräftig wachsenden Population zu ge-
nügen, in die Höhe gebaut, was man nicht in die Breite setzen konnte, und
es thürmten sich jene unheimlichen fünf und sechs Stock hohen Häuser, welche
dem Straßenleben Luft und Sonne entziehen. Die stürmischen Umwälzungen
und James Fazys dictatorischer Mund sprachen endlich nach langem Kampfe
das Delendum aus und die Wälle fielen. Wie sich der Vogel aus dem Käfig
schwang, so schwingt sich das muntere Genf über die alten Pfähle und reiht
auf dem neugewonnenen Boden Haus an Haus, Straße an Straße. Echt
großstädtisch sind die schönen Quais zu beiden Seiten der spiegelklaren Rhone,
die mitten in der Stadt zwei freundliche Inseln bildet und dann auch die schone
RUe de la Corraterie. Ich zweifle nicht, Genf wird in wenigen Jahrzehnten
eine Stadt von 40,000 Einwohnern sein und den Namen eines kleinen Paris
mit Recht tragen. Drängt ja doch ein merkwürdiger Jnstinct in unsrer Zeit
"lies Volk den Städten zu. Von neugegründeten Dörfern hört man selten,
oder auch nur von stark vergrößerten. Was die Landschaften an Volksüber-
fiuß besitzen, strömt entweder den Städten zu oder, wo diese nicht genügsame
Anziehungskraft besitzen und schon in ihrer ganzen Anlage dem Volksinstinct
mie Garantie starken Wachsthums nicht bieten, über Meer. Du wirst nicht
viel von Auswanderung aus den Cantonen Zürich, Waadt, Genf, Basel hören.
Da absorbiren blühende Städte des Landes Ueberfluß an Menschen; aber aus
Graubünden, Glarus, Se. Gallen, Aargau :c. suchen jährlich Hunderte eine
Zukunft jenseit deö Oceans.

Wie wenig andere Städte, hat Genf auf mich den Eindruck einer noblen,
r>»er adeligen Stadt gemacht. Es hat eine schöne, ruhmvolle Geschichte, nicht


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[0399] Tritt man von der Westseite an die Stadt, so imponirt sie durch ihre gewal¬ tigen Häuser und die hochgelegene Kathedrale von Se. Pierre; bald aber verwischt sich im Innern des Häuserknäuels der Eindruck; der Stadtkern ist wie bei allen älteren Schwestern ein unordentliches Gassenlabyrinth und die drcilhürmige, in edlem byzantinischen Stile angelegte Hauptkirche ist theils unvollendet geblieben, theils durch geschmacklose Fortbauten verpfuscht worden. Genf hat etwas Großstädtisches, ja mehr als manche deutsche Stadt von 60,000 Einwohnern; Genf war seit der Reformation der Hauptsitz des hoch¬ kirchlichen Calvinismus, und dabei eine sehr reiche Stadt — ist es nicht ver¬ wunderlich, daß es keine einzige hübsche Kirche besitzt? Blos die anglikanische Kapelle von jüngsten Datum wird als schön gepriesen; ich gestehe aber offen, daß sie nicht nach meinem Geschmacke ist. Ebensowenig können das Hotel- dc-Ville, Arsenal und die übrigen öffentlichen Gebäude gelobt werden. Die Baukunst war eben von jeher der Genfer schwache Seite. Und dies um so mehr, je länger die Stadt in ihre alten Wälle und Ringmauern eingeklemmt blieb und es überall an Raum für großartigere Bauten gebrach. Da wurde im Innern, um dem Bedürfniß einer kräftig wachsenden Population zu ge- nügen, in die Höhe gebaut, was man nicht in die Breite setzen konnte, und es thürmten sich jene unheimlichen fünf und sechs Stock hohen Häuser, welche dem Straßenleben Luft und Sonne entziehen. Die stürmischen Umwälzungen und James Fazys dictatorischer Mund sprachen endlich nach langem Kampfe das Delendum aus und die Wälle fielen. Wie sich der Vogel aus dem Käfig schwang, so schwingt sich das muntere Genf über die alten Pfähle und reiht auf dem neugewonnenen Boden Haus an Haus, Straße an Straße. Echt großstädtisch sind die schönen Quais zu beiden Seiten der spiegelklaren Rhone, die mitten in der Stadt zwei freundliche Inseln bildet und dann auch die schone RUe de la Corraterie. Ich zweifle nicht, Genf wird in wenigen Jahrzehnten eine Stadt von 40,000 Einwohnern sein und den Namen eines kleinen Paris mit Recht tragen. Drängt ja doch ein merkwürdiger Jnstinct in unsrer Zeit "lies Volk den Städten zu. Von neugegründeten Dörfern hört man selten, oder auch nur von stark vergrößerten. Was die Landschaften an Volksüber- fiuß besitzen, strömt entweder den Städten zu oder, wo diese nicht genügsame Anziehungskraft besitzen und schon in ihrer ganzen Anlage dem Volksinstinct mie Garantie starken Wachsthums nicht bieten, über Meer. Du wirst nicht viel von Auswanderung aus den Cantonen Zürich, Waadt, Genf, Basel hören. Da absorbiren blühende Städte des Landes Ueberfluß an Menschen; aber aus Graubünden, Glarus, Se. Gallen, Aargau :c. suchen jährlich Hunderte eine Zukunft jenseit deö Oceans. Wie wenig andere Städte, hat Genf auf mich den Eindruck einer noblen, r>»er adeligen Stadt gemacht. Es hat eine schöne, ruhmvolle Geschichte, nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/399>, abgerufen am 27.07.2024.