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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Mannes anschaulich gemacht, welcher, mitten in diese Krisen und Gährungen
einer reformbedürftigen Zeit mit seiner ärmlichen, sich kaum über dem Wasser
haltenden Existenz hineingeworfen, nahe daran ist, in diesen Stößen und
Rückstößen unterzugehen. Bitzius stellt die Armseligkeit des Schullehrerstandes
jener Zeit, die Noth desselben in ihrer ganzen, realen Größe dar, er ver¬
schweigt und verkleinert nichts, er bringt nichts hinzu, um das Bild gegen
das Zeugniß der Wirklichkeit weniger düster zu macheu. Aber er hütet
sich gleichwol, bei dem. durch die neue Zeil und deren Verheißungen gewaltig
aufgeregten Lehrerstande ungemessene Erwartungen und Hoffnungen zu er¬
wecken. Er warnt nachdrücklich vor der Illusion, daß das Gute und Bessere
in der Welt einzig vom Staate aus, durch Gesetze und Zusicherungen von
oben herab, ohne unser eignes Zuthun, ohne eigne Anstrengung und muthigen
Kampf geschaffen werden könne. Er lehrt die Gedruckten Maß halten im Er¬
warten und Hoffen, damit sie auch Maß halten könnten im Verzagen und
Verzweifeln. Nach seiner Weise will er nicht verwöhnen, die Leute nicht
bequem und faul machen; nicht Wünschen Raum geben und sanguinische Er¬
wartungen wecken, die nie verwirklicht werden könnten. Er bleibt nüchtern,
lakonisch und sparsam im Rühmen und im Verheißen, er geht aufs Innere
los, er will jeden Nerv des Menschen zur Verbesserung seines Zustandes selbst
angespannt wissen. Diese Nüchternheit und Mäßigkeit deS Buches mochte
ein Grund sein, warum dasselbe Viele, namentlich aus dem Schullehrerstande,
nicht befriedigte. Das Buch hat sich allmälig erst Bahn gebrochen. Jetzt
wird niemand mehr in Zweifel sein, daß es in psychologischer Beziehung zu
den vollendetsten Leistungen gehört. Der einzige begründete Tadel liegt in
der Form der Selbstbiographie. Der Schulmeister Käser ist ein zu unreifer
Mensch, als daß er so fein, wie eS hier geschieht, über sich selbst reflectiren
könnte. Seine Gattin Mädeli gehört zu den ausgezeichnetsten Schöpfungen
Gotthelfs. -

Bei den folgenden Schriften: Wie fünf Mädchen im Branntwein jäm¬
merlich umkommen, und: Dursli der Branntweinsäufer, mag man die philan¬
thropische Absicht anerkennen, die Ausführung liegt außerhalb der Greuzen
der Poesie. Die kleine Schrift über die Armennoth (18i0) ist in der Tendenz
wie in der Darstellung gleich vortrefflich. Eine bei weitem höhere Stelle ver¬
dient aber: Wie Ali der Knecht glücklich wird, eine Gabe für
Dienstboten und Meisterleute (-1841). Alle Eigenschaften, die BitziuS
als Schriftsteller einer eigenthümlichen Gattung auszeichnen, die genaueste
Kenntniß ländlichen und bäuerlichen Lebens, der Sitte und Anschauungs¬
weise, der Spiele und Arbeiten des Landmanns, der innern und äußern
Oekonomie der großen Bauernhäuser, die Naturtreue der Schilderungen, die
Farbenfrische und Wärme der Erzählung, scheinen erst hier den rechten Spiel-


Mannes anschaulich gemacht, welcher, mitten in diese Krisen und Gährungen
einer reformbedürftigen Zeit mit seiner ärmlichen, sich kaum über dem Wasser
haltenden Existenz hineingeworfen, nahe daran ist, in diesen Stößen und
Rückstößen unterzugehen. Bitzius stellt die Armseligkeit des Schullehrerstandes
jener Zeit, die Noth desselben in ihrer ganzen, realen Größe dar, er ver¬
schweigt und verkleinert nichts, er bringt nichts hinzu, um das Bild gegen
das Zeugniß der Wirklichkeit weniger düster zu macheu. Aber er hütet
sich gleichwol, bei dem. durch die neue Zeil und deren Verheißungen gewaltig
aufgeregten Lehrerstande ungemessene Erwartungen und Hoffnungen zu er¬
wecken. Er warnt nachdrücklich vor der Illusion, daß das Gute und Bessere
in der Welt einzig vom Staate aus, durch Gesetze und Zusicherungen von
oben herab, ohne unser eignes Zuthun, ohne eigne Anstrengung und muthigen
Kampf geschaffen werden könne. Er lehrt die Gedruckten Maß halten im Er¬
warten und Hoffen, damit sie auch Maß halten könnten im Verzagen und
Verzweifeln. Nach seiner Weise will er nicht verwöhnen, die Leute nicht
bequem und faul machen; nicht Wünschen Raum geben und sanguinische Er¬
wartungen wecken, die nie verwirklicht werden könnten. Er bleibt nüchtern,
lakonisch und sparsam im Rühmen und im Verheißen, er geht aufs Innere
los, er will jeden Nerv des Menschen zur Verbesserung seines Zustandes selbst
angespannt wissen. Diese Nüchternheit und Mäßigkeit deS Buches mochte
ein Grund sein, warum dasselbe Viele, namentlich aus dem Schullehrerstande,
nicht befriedigte. Das Buch hat sich allmälig erst Bahn gebrochen. Jetzt
wird niemand mehr in Zweifel sein, daß es in psychologischer Beziehung zu
den vollendetsten Leistungen gehört. Der einzige begründete Tadel liegt in
der Form der Selbstbiographie. Der Schulmeister Käser ist ein zu unreifer
Mensch, als daß er so fein, wie eS hier geschieht, über sich selbst reflectiren
könnte. Seine Gattin Mädeli gehört zu den ausgezeichnetsten Schöpfungen
Gotthelfs. -

Bei den folgenden Schriften: Wie fünf Mädchen im Branntwein jäm¬
merlich umkommen, und: Dursli der Branntweinsäufer, mag man die philan¬
thropische Absicht anerkennen, die Ausführung liegt außerhalb der Greuzen
der Poesie. Die kleine Schrift über die Armennoth (18i0) ist in der Tendenz
wie in der Darstellung gleich vortrefflich. Eine bei weitem höhere Stelle ver¬
dient aber: Wie Ali der Knecht glücklich wird, eine Gabe für
Dienstboten und Meisterleute (-1841). Alle Eigenschaften, die BitziuS
als Schriftsteller einer eigenthümlichen Gattung auszeichnen, die genaueste
Kenntniß ländlichen und bäuerlichen Lebens, der Sitte und Anschauungs¬
weise, der Spiele und Arbeiten des Landmanns, der innern und äußern
Oekonomie der großen Bauernhäuser, die Naturtreue der Schilderungen, die
Farbenfrische und Wärme der Erzählung, scheinen erst hier den rechten Spiel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/383>, abgerufen am 28.07.2024.