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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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ist dieses Dorf der wahre Typus eines stolzen und gesegneten BcmerdvrseS,
wie sie in diesem Canton der "sreiherrlichen Bauersame" zu finden sind. Das
ganze große Gebiet landabwärts gegen Solothurn und den Aargau zu gleicht
einem fruchtbaren Garten. Der Werth des Bodens steigt hier aufs Höchste
und die agricole Physiognomie des Bernerlandes entfaltet ihren größten Reich¬
thum. Die Pfarre hatte ein bedeutendes Stück Land zu bewirthschaften, und
der Knabe, der früh für die Außenwelt ein offenes Auge zeigte, sing bald an,
sich in die landwirtschaftlichen Verhältnisse einzuleben; er legte Hand an, wo
er konnte, und wurde mit allem Detail der ländlichen Arbeiten vertraut.
Nebenbei las er Schweizergeschichte, Chroniken, auch Romane. Lafontaine
hat ihm Thränen entlockt, und seine Phantasie war von Räubergeschichten
angefüllt. Auch tummelte er sich wacker mit den Dorfknaben herum und zeich¬
nete sich in allen ländlichen Spielen aus. In seinem Charakter traten schon
damals drei Eigenschaften hervor: neidloses Wohlwollen, starkes Rechtsgefühl
und die Neigung zu rücksichtslosem Widerspruch. 181t trat er in die so¬
genannte Akademie ein. Nach der damaligen Einrichtung erforderte der theolo¬
gische Lehrcurs sechs Jahre, von welchen die letzten drei den specielle" theo¬
logischen Disciplinen, die drei erstem mehr den propädeutischen Fächern, wie
Sprachen, Physik, Mathematik, Philosophie, gewidmet waren. Diese ältere
Einrichtung hatte das Eigenthümliche, daß die Universitätszeit und die damit
verbundene Freiheit zwei Jahre früher eintraten, etwa nach der Tertia der
heutigen Gymnasien. So ernsthaft sich der junge Bitziuö den Studien hingab,
so blieb er doch in der eigentlichen Philologie zurück, während er für seine
Arbeiten in der Mathematik und Physik Lob gewann. Was die philosophische"
Studien betrifft, so waren damals die populären Schriftsteller aus den Uni¬
versitäten die herrschenden. Es ist charakteristisch für GotthelfS spätere religiöse
Entwicklung, daß unter allen Autoren, die er las, am meisten Fries (Julius
und Evagoraö), Schleiermacher (Reden über die Religion) und Herder (Ideen)
aus ihn einwirkten. Schon damals arbeitete er sorgfältig, waS ihm aus dieser
Lectüre deutlich wurde, in seinen Tagebüchern aus, und es geht daraus her'
vor, daß er auch in der Religion nur die Bestätigung seines Gewissens und
seiner Vernunft suchte. Allein er hatte zugleich den Jnstinct, daß die Religion
das stärkste aller Bande sei, um die menschlichen Verhältnisse zusammenzuhal¬
ten und zu einer höhern Cultur zu führen, und daß eS leichter sei, die reli¬
giösen Begriffe eines Volkes zu untergraben, als sie durch richtigere und frucht-
dringendere zu ersetzen. Er verabscheute ebenso die Pietisten und Pharisäer
wie die cynischen Verächter des Christenthums, und faßte die Religion
vorzugsweise praktisch auf. "Ich fühle," sagt er, "daß ich nun einmal zu
einem Gelehrten durchaus untüchtig bin, theils durch meine Erziehung, theils
durch meine Gaben. Zugleich aber besitze ich zu viel Ehrgeiz, um in eine"'


ist dieses Dorf der wahre Typus eines stolzen und gesegneten BcmerdvrseS,
wie sie in diesem Canton der „sreiherrlichen Bauersame" zu finden sind. Das
ganze große Gebiet landabwärts gegen Solothurn und den Aargau zu gleicht
einem fruchtbaren Garten. Der Werth des Bodens steigt hier aufs Höchste
und die agricole Physiognomie des Bernerlandes entfaltet ihren größten Reich¬
thum. Die Pfarre hatte ein bedeutendes Stück Land zu bewirthschaften, und
der Knabe, der früh für die Außenwelt ein offenes Auge zeigte, sing bald an,
sich in die landwirtschaftlichen Verhältnisse einzuleben; er legte Hand an, wo
er konnte, und wurde mit allem Detail der ländlichen Arbeiten vertraut.
Nebenbei las er Schweizergeschichte, Chroniken, auch Romane. Lafontaine
hat ihm Thränen entlockt, und seine Phantasie war von Räubergeschichten
angefüllt. Auch tummelte er sich wacker mit den Dorfknaben herum und zeich¬
nete sich in allen ländlichen Spielen aus. In seinem Charakter traten schon
damals drei Eigenschaften hervor: neidloses Wohlwollen, starkes Rechtsgefühl
und die Neigung zu rücksichtslosem Widerspruch. 181t trat er in die so¬
genannte Akademie ein. Nach der damaligen Einrichtung erforderte der theolo¬
gische Lehrcurs sechs Jahre, von welchen die letzten drei den specielle» theo¬
logischen Disciplinen, die drei erstem mehr den propädeutischen Fächern, wie
Sprachen, Physik, Mathematik, Philosophie, gewidmet waren. Diese ältere
Einrichtung hatte das Eigenthümliche, daß die Universitätszeit und die damit
verbundene Freiheit zwei Jahre früher eintraten, etwa nach der Tertia der
heutigen Gymnasien. So ernsthaft sich der junge Bitziuö den Studien hingab,
so blieb er doch in der eigentlichen Philologie zurück, während er für seine
Arbeiten in der Mathematik und Physik Lob gewann. Was die philosophische»
Studien betrifft, so waren damals die populären Schriftsteller aus den Uni¬
versitäten die herrschenden. Es ist charakteristisch für GotthelfS spätere religiöse
Entwicklung, daß unter allen Autoren, die er las, am meisten Fries (Julius
und Evagoraö), Schleiermacher (Reden über die Religion) und Herder (Ideen)
aus ihn einwirkten. Schon damals arbeitete er sorgfältig, waS ihm aus dieser
Lectüre deutlich wurde, in seinen Tagebüchern aus, und es geht daraus her'
vor, daß er auch in der Religion nur die Bestätigung seines Gewissens und
seiner Vernunft suchte. Allein er hatte zugleich den Jnstinct, daß die Religion
das stärkste aller Bande sei, um die menschlichen Verhältnisse zusammenzuhal¬
ten und zu einer höhern Cultur zu führen, und daß eS leichter sei, die reli¬
giösen Begriffe eines Volkes zu untergraben, als sie durch richtigere und frucht-
dringendere zu ersetzen. Er verabscheute ebenso die Pietisten und Pharisäer
wie die cynischen Verächter des Christenthums, und faßte die Religion
vorzugsweise praktisch auf. „Ich fühle," sagt er, „daß ich nun einmal zu
einem Gelehrten durchaus untüchtig bin, theils durch meine Erziehung, theils
durch meine Gaben. Zugleich aber besitze ich zu viel Ehrgeiz, um in eine»'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/378>, abgerufen am 27.07.2024.