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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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angedeutet, kein großes Vertrauen beansprucht, so ist eine doch entsprechende Lö¬
sung nicht unmöglich, ja sie ist nicht unwahrscheinlich, so lange Frankreich seine
europäische Politik mit gleicher Mäßigung verfolgen kann. Sie gestattet eine
allmälige und verhältnißmäßig friedliche Zersetzung der Türkei und läßt in
Aegypten und Asten für Frankreich wie für England und Rußland noch große
und wichtige Ländermassen frei. Das allmälige Absterben der Türkei wird in
den vorzugsweise von serbischen Slawen und Griechen bewohnten Landschaften
am ersten empfunden, und die Gründung eines Rumänenstaats wäre als der
Anstoß zu solchen Entwicklungen zu betrachten.

Welches muß Preußens Stellung in dieser großen Frage sein? Das Macht¬
verhältniß der europäischen Staaten ändert sich seit einigen Decennien in einer
für Preußen verhängnißvollen Weise. Nicht wesentliche Gebietsveränderungen,
sondern die in allen Staaten sich wie im Wetteifer mächtig entwickelnde Cultur
gibt den Staaten von größerem Umfang und stärkerer Bevölkerung ein immer
stärkeres Uebergewicht. Was zur Zeit Friedrich des Großen möglich war, ist
für das jetzige Preußen unmöglich. Er konnte noch den Kampf gegen drei
seiner großen Nachbarn zu gleicher Zeit aushalten. Das gegenwärtige Preu¬
ßen ist bei größter Anstrengung seiner Kräfte nicht mehr dem Kampf mit einem
gewachsen. Zu Frankreich wie zu Oestreich steht seine Kriegsmacht wie drei zu
fünf und der Unterschied in Intelligenz, Bildung und Patriotismus ist durch¬
aus nicht mehr so groß, daß er dies Mißverhältniß vollständig ausgleichen
wird. So lange Oestreich sich Deutschland gegenüber mehr abwehrend als
agitirend verhielt, durfte man sich in Preußen der Hoffnung hingeben, auf
friedlichem Wege, durch allmälige Verschmelzung der Interessen, die Kraft des
übrigen Deutschlands mit Preußen zu verbinden. Seit der Besiegung von
Ungarn hat Oestreich die alte Habsburgische Politik in Deutschland wieder auf¬
genommen, und wie man diese Thatsache auch verschleiern möge, der consequen-
teste, unermüdlichste und gefährlichste Rival Preußens ist das gegenwärtige
Oestreich.

Dieser große geschlossene Ländercompler bietet gegenwärtig das Schauspiel
der schnellsten und radicalsten Umwandlung in einen modernen Beamtenstaat.
In wahrhaft großartiger Weise werden von der Regierung die Kräfte des
Landes bis zum Aeußersten angespannt, um Production und Einnahmen
Innern, Nach Außen den staatlichen Einfluß zu vergrößern. Ob dies immer
auf die rechte Weise geschieht, kann bezweifelt werden, jedenfalls hat diese Thä¬
tigkeit die Wirkung gehabt, das Selbstgefühl und die Unternehmungslust auch
der Unterthanen heftig zu heben und Oestreich in der Gegenwart eine Stellung
zu geben, welche den übrigen Staaten Europas Mißtrauen gegen neue Ver¬
größerungspläne des Kaiserstaats einflößt. Allerdings entspricht die innere Kraft
Oestreichs nicht ganz seinen politischen Ansprüchen. Der Staat ist mit Schuld


angedeutet, kein großes Vertrauen beansprucht, so ist eine doch entsprechende Lö¬
sung nicht unmöglich, ja sie ist nicht unwahrscheinlich, so lange Frankreich seine
europäische Politik mit gleicher Mäßigung verfolgen kann. Sie gestattet eine
allmälige und verhältnißmäßig friedliche Zersetzung der Türkei und läßt in
Aegypten und Asten für Frankreich wie für England und Rußland noch große
und wichtige Ländermassen frei. Das allmälige Absterben der Türkei wird in
den vorzugsweise von serbischen Slawen und Griechen bewohnten Landschaften
am ersten empfunden, und die Gründung eines Rumänenstaats wäre als der
Anstoß zu solchen Entwicklungen zu betrachten.

Welches muß Preußens Stellung in dieser großen Frage sein? Das Macht¬
verhältniß der europäischen Staaten ändert sich seit einigen Decennien in einer
für Preußen verhängnißvollen Weise. Nicht wesentliche Gebietsveränderungen,
sondern die in allen Staaten sich wie im Wetteifer mächtig entwickelnde Cultur
gibt den Staaten von größerem Umfang und stärkerer Bevölkerung ein immer
stärkeres Uebergewicht. Was zur Zeit Friedrich des Großen möglich war, ist
für das jetzige Preußen unmöglich. Er konnte noch den Kampf gegen drei
seiner großen Nachbarn zu gleicher Zeit aushalten. Das gegenwärtige Preu¬
ßen ist bei größter Anstrengung seiner Kräfte nicht mehr dem Kampf mit einem
gewachsen. Zu Frankreich wie zu Oestreich steht seine Kriegsmacht wie drei zu
fünf und der Unterschied in Intelligenz, Bildung und Patriotismus ist durch¬
aus nicht mehr so groß, daß er dies Mißverhältniß vollständig ausgleichen
wird. So lange Oestreich sich Deutschland gegenüber mehr abwehrend als
agitirend verhielt, durfte man sich in Preußen der Hoffnung hingeben, auf
friedlichem Wege, durch allmälige Verschmelzung der Interessen, die Kraft des
übrigen Deutschlands mit Preußen zu verbinden. Seit der Besiegung von
Ungarn hat Oestreich die alte Habsburgische Politik in Deutschland wieder auf¬
genommen, und wie man diese Thatsache auch verschleiern möge, der consequen-
teste, unermüdlichste und gefährlichste Rival Preußens ist das gegenwärtige
Oestreich.

Dieser große geschlossene Ländercompler bietet gegenwärtig das Schauspiel
der schnellsten und radicalsten Umwandlung in einen modernen Beamtenstaat.
In wahrhaft großartiger Weise werden von der Regierung die Kräfte des
Landes bis zum Aeußersten angespannt, um Production und Einnahmen
Innern, Nach Außen den staatlichen Einfluß zu vergrößern. Ob dies immer
auf die rechte Weise geschieht, kann bezweifelt werden, jedenfalls hat diese Thä¬
tigkeit die Wirkung gehabt, das Selbstgefühl und die Unternehmungslust auch
der Unterthanen heftig zu heben und Oestreich in der Gegenwart eine Stellung
zu geben, welche den übrigen Staaten Europas Mißtrauen gegen neue Ver¬
größerungspläne des Kaiserstaats einflößt. Allerdings entspricht die innere Kraft
Oestreichs nicht ganz seinen politischen Ansprüchen. Der Staat ist mit Schuld


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[0374] angedeutet, kein großes Vertrauen beansprucht, so ist eine doch entsprechende Lö¬ sung nicht unmöglich, ja sie ist nicht unwahrscheinlich, so lange Frankreich seine europäische Politik mit gleicher Mäßigung verfolgen kann. Sie gestattet eine allmälige und verhältnißmäßig friedliche Zersetzung der Türkei und läßt in Aegypten und Asten für Frankreich wie für England und Rußland noch große und wichtige Ländermassen frei. Das allmälige Absterben der Türkei wird in den vorzugsweise von serbischen Slawen und Griechen bewohnten Landschaften am ersten empfunden, und die Gründung eines Rumänenstaats wäre als der Anstoß zu solchen Entwicklungen zu betrachten. Welches muß Preußens Stellung in dieser großen Frage sein? Das Macht¬ verhältniß der europäischen Staaten ändert sich seit einigen Decennien in einer für Preußen verhängnißvollen Weise. Nicht wesentliche Gebietsveränderungen, sondern die in allen Staaten sich wie im Wetteifer mächtig entwickelnde Cultur gibt den Staaten von größerem Umfang und stärkerer Bevölkerung ein immer stärkeres Uebergewicht. Was zur Zeit Friedrich des Großen möglich war, ist für das jetzige Preußen unmöglich. Er konnte noch den Kampf gegen drei seiner großen Nachbarn zu gleicher Zeit aushalten. Das gegenwärtige Preu¬ ßen ist bei größter Anstrengung seiner Kräfte nicht mehr dem Kampf mit einem gewachsen. Zu Frankreich wie zu Oestreich steht seine Kriegsmacht wie drei zu fünf und der Unterschied in Intelligenz, Bildung und Patriotismus ist durch¬ aus nicht mehr so groß, daß er dies Mißverhältniß vollständig ausgleichen wird. So lange Oestreich sich Deutschland gegenüber mehr abwehrend als agitirend verhielt, durfte man sich in Preußen der Hoffnung hingeben, auf friedlichem Wege, durch allmälige Verschmelzung der Interessen, die Kraft des übrigen Deutschlands mit Preußen zu verbinden. Seit der Besiegung von Ungarn hat Oestreich die alte Habsburgische Politik in Deutschland wieder auf¬ genommen, und wie man diese Thatsache auch verschleiern möge, der consequen- teste, unermüdlichste und gefährlichste Rival Preußens ist das gegenwärtige Oestreich. Dieser große geschlossene Ländercompler bietet gegenwärtig das Schauspiel der schnellsten und radicalsten Umwandlung in einen modernen Beamtenstaat. In wahrhaft großartiger Weise werden von der Regierung die Kräfte des Landes bis zum Aeußersten angespannt, um Production und Einnahmen Innern, Nach Außen den staatlichen Einfluß zu vergrößern. Ob dies immer auf die rechte Weise geschieht, kann bezweifelt werden, jedenfalls hat diese Thä¬ tigkeit die Wirkung gehabt, das Selbstgefühl und die Unternehmungslust auch der Unterthanen heftig zu heben und Oestreich in der Gegenwart eine Stellung zu geben, welche den übrigen Staaten Europas Mißtrauen gegen neue Ver¬ größerungspläne des Kaiserstaats einflößt. Allerdings entspricht die innere Kraft Oestreichs nicht ganz seinen politischen Ansprüchen. Der Staat ist mit Schuld

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/374>, abgerufen am 01.09.2024.