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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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für unser liebes Oestreich nicht, daß Sie sich nach unsern Literaturerzeugnissen
sehnten."

Einigermaßen wurde das gute Verhältniß durch Müllers Sendschreiben
gegen Görres (-1818) wiederhergestellt, welches bei Gentz großen Beifall fand.
Was diese beiden auffallend klaren Köpfe, Müller und Görres, miteinander
verhandelten, ist erstaunlich genug, aber es würde uns doch zu weit führen,
darauf einzugehen. Nach dem, was wir bisher gelesen haben, werden wir durch
eine plötzliche Umkehr des Verhältnisses zwischen Gentz und Müller in Bezug
auf Religion und Politik völlig außer Fassung gesetzt.

Gentz schreibt den 19. April 1819: "Vergessen Sie jetzt aus einen Augen¬
blick alles, was meine rebellische Vernunft in früheren Verhandlungen, in
Bezug auf mich, Ihnen oft entgegengesetzt hat. Ich stelle mich auf einen
höheren Standpunkt, von welchem ich das Ganze (und auch im Ganzen) be¬
trachte. Es frägt sich hier nicht, inwiefern meine Vernunft gebändigt werden
kann; aber ich weiß, daß keine moralische und folglich auch keine politische
Weltordnung bestehen kann, wenn sich nicht Mittel finden, die Vernunft eines
jeden zu bändigen, und wenn der unselige Anspruch, vermöge dessen jeder
seine eigne Vernunft als gesetzgebend ansehen will, nicht aus der menschlichen
Gesellschaft wieder zu verbannen ist. Ohne Regel und Gesetz kann keine Ge¬
sellschaft wahrer Menschen gedacht werden. Diese Regel und dieses Gesetz
können aber keine Haltung haben, wenn sie von bloßer Willkür, sollte es anch
die aufgeklärteste sein, ausgehen. Denn Willkür gegen Willkür, ist am Ende
jeder gleich befugt, die seinige für die beste zu halten. Es muß ein höheres
besetz geben. Das kann nur in der Religion zu finden sein, und zwar nur
'n einer Religion, die den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, welches,
außer der christlichen, noch keine andere auch nur versucht hat. Selbst hier
aber kann das höhere Gesetz keine feste Wurzel schlagen, wenn es nicht von
einer fortdauernden gesetzgebenden Macht regelmäßig verwaltet wird. Es muß
folglich eine Kirche bestehen; und in dieser Kirche muß Einheit und Unwandel¬
barkeit in allem Wesentlichen das erste Princip sein. Sobald man einmal
zugibt, daß die Vernunft des Einzelnen in Sachen der Religion, nicht blos
unter der Hand rebelliren (welches sich nicht immer vermeiden läßt), sondern
für ihn selbst und gar für andere gesetzgebend werden kann, muß das Nam-
^che auch sür alle Staatsverhältnisse gelten; und von dem Augenblicke an
fallt die Gesellschaft auseinander und alles sinkt in den wilden Naturzustand
Zurück. Kirche und Staat dürfen immer nur sich selbst reformiren; das heißt,
lebe wahre Reform muß von den in beiden constituirten Autoritäten ausgehen.
Sobald der Einzelne oder daS sogenannte Volk in dieses Geschäft eingreifen
darf, ist keine Rettung mehr. Der Protestantismus ist die erste, wahre und
einzige Quelle aller ungeheuren Uebel, unter welchen wir heute erliegen.


für unser liebes Oestreich nicht, daß Sie sich nach unsern Literaturerzeugnissen
sehnten."

Einigermaßen wurde das gute Verhältniß durch Müllers Sendschreiben
gegen Görres (-1818) wiederhergestellt, welches bei Gentz großen Beifall fand.
Was diese beiden auffallend klaren Köpfe, Müller und Görres, miteinander
verhandelten, ist erstaunlich genug, aber es würde uns doch zu weit führen,
darauf einzugehen. Nach dem, was wir bisher gelesen haben, werden wir durch
eine plötzliche Umkehr des Verhältnisses zwischen Gentz und Müller in Bezug
auf Religion und Politik völlig außer Fassung gesetzt.

Gentz schreibt den 19. April 1819: „Vergessen Sie jetzt aus einen Augen¬
blick alles, was meine rebellische Vernunft in früheren Verhandlungen, in
Bezug auf mich, Ihnen oft entgegengesetzt hat. Ich stelle mich auf einen
höheren Standpunkt, von welchem ich das Ganze (und auch im Ganzen) be¬
trachte. Es frägt sich hier nicht, inwiefern meine Vernunft gebändigt werden
kann; aber ich weiß, daß keine moralische und folglich auch keine politische
Weltordnung bestehen kann, wenn sich nicht Mittel finden, die Vernunft eines
jeden zu bändigen, und wenn der unselige Anspruch, vermöge dessen jeder
seine eigne Vernunft als gesetzgebend ansehen will, nicht aus der menschlichen
Gesellschaft wieder zu verbannen ist. Ohne Regel und Gesetz kann keine Ge¬
sellschaft wahrer Menschen gedacht werden. Diese Regel und dieses Gesetz
können aber keine Haltung haben, wenn sie von bloßer Willkür, sollte es anch
die aufgeklärteste sein, ausgehen. Denn Willkür gegen Willkür, ist am Ende
jeder gleich befugt, die seinige für die beste zu halten. Es muß ein höheres
besetz geben. Das kann nur in der Religion zu finden sein, und zwar nur
'n einer Religion, die den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, welches,
außer der christlichen, noch keine andere auch nur versucht hat. Selbst hier
aber kann das höhere Gesetz keine feste Wurzel schlagen, wenn es nicht von
einer fortdauernden gesetzgebenden Macht regelmäßig verwaltet wird. Es muß
folglich eine Kirche bestehen; und in dieser Kirche muß Einheit und Unwandel¬
barkeit in allem Wesentlichen das erste Princip sein. Sobald man einmal
zugibt, daß die Vernunft des Einzelnen in Sachen der Religion, nicht blos
unter der Hand rebelliren (welches sich nicht immer vermeiden läßt), sondern
für ihn selbst und gar für andere gesetzgebend werden kann, muß das Nam-
^che auch sür alle Staatsverhältnisse gelten; und von dem Augenblicke an
fallt die Gesellschaft auseinander und alles sinkt in den wilden Naturzustand
Zurück. Kirche und Staat dürfen immer nur sich selbst reformiren; das heißt,
lebe wahre Reform muß von den in beiden constituirten Autoritäten ausgehen.
Sobald der Einzelne oder daS sogenannte Volk in dieses Geschäft eingreifen
darf, ist keine Rettung mehr. Der Protestantismus ist die erste, wahre und
einzige Quelle aller ungeheuren Uebel, unter welchen wir heute erliegen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/303>, abgerufen am 29.07.2024.