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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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noch auf festem Boden stehen, so bleibt mir nichts übrig, als zu erklären, daß
sie einen Sinn haben müssen, der mir abgeht und den ich mir nicht beizulegen
weiß." Zugleich (12. Mai 1817) bemerkt aber Gentz, daß auch aus den
religiösen Gesinnungen seines Freundes die politischen Grundsätze, die er fort¬
während ausspricht, keineswegs gerechtfertigt erscheinen. Er citirt den Satz
von Schlosser: "eine rationelle Bildung, wenn sie zu einseitig und über ihre
Grenzen gesteigert ist, fordert ganz ebenso ihre traditionelle Ergänzung, wie
umgekehrt eine traditionelle Bildung, wo sie erstarrt und der Natur des Men¬
schen entfremdet ist, rationelle Belebung fordert." "Dies," setzt er hinzu "ist
die Quintessenz meiner jetzt zur Reife gediehenen Weltansicht. Auf welcher
von beiden Seiten in jedem gegebenen Zeitpunkt daS Gleichgewicht bedroht sei,
darüber kann zuweilen Zweifel und Zwiespalt obwalten. Zu der Zeit, wo ich
den politischen Schauplatz betrat, schien es wirklich darauf abgesehen, daS tra¬
ditionelle Element ganz zu verdrängen und dem rationellen die Alleinherrschaft
zu bereiten. Gegen dieses falsche Bestreben bin ich zu Felde gezogen; und
wenn ich gleich in der Hitze des Gefechts manchmal zu weit gegangen sein
mag, so wird man mir doch nicht leicht zur Last legen können, daß ich aus
Furcht vor der Scylla meine Augen gegen die Charybdis je völlig verschlossen
hätte. Daß die Lage der Dinge sich in den letzten Jahren wesentlich geändert
hat, geben Sie zwar nicht zu, scheint mir aber unverkennbar. . . . DaS Gleich¬
gewicht ist auf der rationellen Seite bedroht; ein Satz, den ich hier nur als
meine Privatmeinung aussprechen kann, den ich aber factisch und historisch
deduciren zu können glaube. . . . Ich habe in dem revolutionären Gange der
Zeit nie den natürlichen und verzeihlichen Wunsch, aus einem schlechten Zu¬
stande zu einem bessern zu gelangen, wol aber daS einseitige und anmaßende
Princip, die Welt von frischem wieder anzufangen, gehaßt. Wenn Sie nun,
ebenso einseitig, anmaßend und schneidend, die Antirevolution predigen, alle
Bestrebungen und alle Produkte dieser Zeit, die ich gewiß nicht ungebührlich
bewundere, mit bitterem Hohn verwerfen und ganz unumwunden die Kirchen¬
verfassung, und Lehnsverfassung, und Dienstverfassung, und Geldverfassung,
und Handelsverfasfung u. s. w. vergangener Jahrhunderte zurückfordern, wie
sollte ich meinen eignen Ideen solche Gewalt anthun, die Ihrigen zu billigen?
....Jedes Heft bestärkt mich in meiner Opposition; und daß Sie mich durch
Ihre harten und einseitigen Behauptungen nicht schon auf die ganz entgegen¬
gesetzte Seite geworfen haben, beweiset nur, wie fest ich selbst im Sattel sitze-
Was aber diesem Brief, dem ein ziemlich langes Stillschweigen zwischen den
beiden Freunden folgte, die wahre Würze gibt, ist folgende kleine unschuldige
Bemerkung. Gentz bittet, ihm aus Halle eine neuerschienene Schrift zuzu¬
schicken, und setzt dann hinzu: "In Büchern werde ich Ihnen freilich die
Netourfracht nicht leisten können; denn so weit geht doch Ihr Enthusiasmus


noch auf festem Boden stehen, so bleibt mir nichts übrig, als zu erklären, daß
sie einen Sinn haben müssen, der mir abgeht und den ich mir nicht beizulegen
weiß." Zugleich (12. Mai 1817) bemerkt aber Gentz, daß auch aus den
religiösen Gesinnungen seines Freundes die politischen Grundsätze, die er fort¬
während ausspricht, keineswegs gerechtfertigt erscheinen. Er citirt den Satz
von Schlosser: „eine rationelle Bildung, wenn sie zu einseitig und über ihre
Grenzen gesteigert ist, fordert ganz ebenso ihre traditionelle Ergänzung, wie
umgekehrt eine traditionelle Bildung, wo sie erstarrt und der Natur des Men¬
schen entfremdet ist, rationelle Belebung fordert." „Dies," setzt er hinzu „ist
die Quintessenz meiner jetzt zur Reife gediehenen Weltansicht. Auf welcher
von beiden Seiten in jedem gegebenen Zeitpunkt daS Gleichgewicht bedroht sei,
darüber kann zuweilen Zweifel und Zwiespalt obwalten. Zu der Zeit, wo ich
den politischen Schauplatz betrat, schien es wirklich darauf abgesehen, daS tra¬
ditionelle Element ganz zu verdrängen und dem rationellen die Alleinherrschaft
zu bereiten. Gegen dieses falsche Bestreben bin ich zu Felde gezogen; und
wenn ich gleich in der Hitze des Gefechts manchmal zu weit gegangen sein
mag, so wird man mir doch nicht leicht zur Last legen können, daß ich aus
Furcht vor der Scylla meine Augen gegen die Charybdis je völlig verschlossen
hätte. Daß die Lage der Dinge sich in den letzten Jahren wesentlich geändert
hat, geben Sie zwar nicht zu, scheint mir aber unverkennbar. . . . DaS Gleich¬
gewicht ist auf der rationellen Seite bedroht; ein Satz, den ich hier nur als
meine Privatmeinung aussprechen kann, den ich aber factisch und historisch
deduciren zu können glaube. . . . Ich habe in dem revolutionären Gange der
Zeit nie den natürlichen und verzeihlichen Wunsch, aus einem schlechten Zu¬
stande zu einem bessern zu gelangen, wol aber daS einseitige und anmaßende
Princip, die Welt von frischem wieder anzufangen, gehaßt. Wenn Sie nun,
ebenso einseitig, anmaßend und schneidend, die Antirevolution predigen, alle
Bestrebungen und alle Produkte dieser Zeit, die ich gewiß nicht ungebührlich
bewundere, mit bitterem Hohn verwerfen und ganz unumwunden die Kirchen¬
verfassung, und Lehnsverfassung, und Dienstverfassung, und Geldverfassung,
und Handelsverfasfung u. s. w. vergangener Jahrhunderte zurückfordern, wie
sollte ich meinen eignen Ideen solche Gewalt anthun, die Ihrigen zu billigen?
....Jedes Heft bestärkt mich in meiner Opposition; und daß Sie mich durch
Ihre harten und einseitigen Behauptungen nicht schon auf die ganz entgegen¬
gesetzte Seite geworfen haben, beweiset nur, wie fest ich selbst im Sattel sitze-
Was aber diesem Brief, dem ein ziemlich langes Stillschweigen zwischen den
beiden Freunden folgte, die wahre Würze gibt, ist folgende kleine unschuldige
Bemerkung. Gentz bittet, ihm aus Halle eine neuerschienene Schrift zuzu¬
schicken, und setzt dann hinzu: „In Büchern werde ich Ihnen freilich die
Netourfracht nicht leisten können; denn so weit geht doch Ihr Enthusiasmus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/302>, abgerufen am 28.07.2024.