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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Voraussetzungen derselben widersprechen. Wir möchten fragen, ob denn der
Begriff des Repräsentativsystems, den man allerdings aus der englischen Ver¬
fassung abstrahirt hat, nur unter den bestimmten Voraussetzungen denkbar ist,
die in England maßgebend waren. Daß England im Wesentlichen eine zusam¬
menhängende Rechtsentwicklung gehabt hat, liegt, abgesehen von den sehr gewich¬
tigen Gründen, die Gneist anführt, doch hauptsächlich darin, daß es eine Insel
ist, daß es seit einer Reihe von Jahren auf seinem Territorium keinen Feind
gesehen hat, und daß es infolge dessen eine stehende Armee entbehren konyte.
Was die Amtsgentry betrifft, so hat diese durch die Reformbill einen starken
Stoß erlitten, und seit 18i6, seit dem schlagenden Erfolg einer Wirkung der
Masse, kann man nicht mehr behaupten, daß es eine regierende Classe ist, die
im Parlament miteinander beräth. Aber hier, wo es nicht mehr auf die augen¬
blickliche Nutzanwendung ankommt, legen wir die Kritik bei Seite. Die Dar¬
stellung der englischen Verfassung, wie sie uns Gneist in dem vorliegenden
Werk als ein organisches Ganze analysirt, ist ein Meisterwerk. Mit einer
Herrschaft über das Material, wie sie selbst bei den englischen Gelehrten nicht
häufig vorkommt, mit einer klaren Einsicht in die factischen Zustände, die man
einem Professor gewöhnlich abspricht, verbindet er eine tiefbegründete philoso¬
phisch-politische Rechtsbildung. Und auch für unsere eigne Fortentwicklung ist
das Studium des Werks von einer weitgreifenden Bedeutung, denn es enthält,
wenn auch nur für eine bestimmte Nation durchgeführt, die Analyse der ewigen
Principien, die für je.de organische politische Schöpfung maßgebend bleiben
werden. Wir können nicht mit Gneist annehmen",, daß, um den frühern Bruch
mit den historischen Principien der preußischen Entwicklung zu sühnen, ein
zweiter Bruch nöthig ist. Wir glauben, daß auf dem jetzt betretenen Wege
das Ziel zu erreichen ist, das, er selbst'sich vorsetzt. Allerdings^ war der preu¬
ßische Staat in seiner Entstehung eine Domäne des Hauses Hohenzollern, die
Souveränetät dieser Fürsten, die klar die Bedürfnisse ihrer Zeit durchschauten
und zäh daran festhielten, hat gewissermaßen erst das preußische Volk hervor¬
gebracht, und sie wird auch in dem constitutionellen Preußen zum Heil aller
Volksclassen eine viel wichtigere Stelle behaupten, als in dem normannischen
Heerkönigthum, wo sich das Staatsleben an die erobernde Aristokratie anknüpfte;
aber das preußische Volk ist jetzt eine vollendete Thatsache, aus der Domäne
ist ein Staat geworden, und wenn wir auch den Begriff des Constitutionalis-
mus aus Verhältnissen, die nicht ganz den unsrigen entsprechen, abstrahirt
haben, so wird er sich doch auch bei uns als daS wirksamste Mittel erweisen,
die Krone und das Volk in eine innere nothwendige Beziehung zu bringen.


I. S.


Voraussetzungen derselben widersprechen. Wir möchten fragen, ob denn der
Begriff des Repräsentativsystems, den man allerdings aus der englischen Ver¬
fassung abstrahirt hat, nur unter den bestimmten Voraussetzungen denkbar ist,
die in England maßgebend waren. Daß England im Wesentlichen eine zusam¬
menhängende Rechtsentwicklung gehabt hat, liegt, abgesehen von den sehr gewich¬
tigen Gründen, die Gneist anführt, doch hauptsächlich darin, daß es eine Insel
ist, daß es seit einer Reihe von Jahren auf seinem Territorium keinen Feind
gesehen hat, und daß es infolge dessen eine stehende Armee entbehren konyte.
Was die Amtsgentry betrifft, so hat diese durch die Reformbill einen starken
Stoß erlitten, und seit 18i6, seit dem schlagenden Erfolg einer Wirkung der
Masse, kann man nicht mehr behaupten, daß es eine regierende Classe ist, die
im Parlament miteinander beräth. Aber hier, wo es nicht mehr auf die augen¬
blickliche Nutzanwendung ankommt, legen wir die Kritik bei Seite. Die Dar¬
stellung der englischen Verfassung, wie sie uns Gneist in dem vorliegenden
Werk als ein organisches Ganze analysirt, ist ein Meisterwerk. Mit einer
Herrschaft über das Material, wie sie selbst bei den englischen Gelehrten nicht
häufig vorkommt, mit einer klaren Einsicht in die factischen Zustände, die man
einem Professor gewöhnlich abspricht, verbindet er eine tiefbegründete philoso¬
phisch-politische Rechtsbildung. Und auch für unsere eigne Fortentwicklung ist
das Studium des Werks von einer weitgreifenden Bedeutung, denn es enthält,
wenn auch nur für eine bestimmte Nation durchgeführt, die Analyse der ewigen
Principien, die für je.de organische politische Schöpfung maßgebend bleiben
werden. Wir können nicht mit Gneist annehmen»,, daß, um den frühern Bruch
mit den historischen Principien der preußischen Entwicklung zu sühnen, ein
zweiter Bruch nöthig ist. Wir glauben, daß auf dem jetzt betretenen Wege
das Ziel zu erreichen ist, das, er selbst'sich vorsetzt. Allerdings^ war der preu¬
ßische Staat in seiner Entstehung eine Domäne des Hauses Hohenzollern, die
Souveränetät dieser Fürsten, die klar die Bedürfnisse ihrer Zeit durchschauten
und zäh daran festhielten, hat gewissermaßen erst das preußische Volk hervor¬
gebracht, und sie wird auch in dem constitutionellen Preußen zum Heil aller
Volksclassen eine viel wichtigere Stelle behaupten, als in dem normannischen
Heerkönigthum, wo sich das Staatsleben an die erobernde Aristokratie anknüpfte;
aber das preußische Volk ist jetzt eine vollendete Thatsache, aus der Domäne
ist ein Staat geworden, und wenn wir auch den Begriff des Constitutionalis-
mus aus Verhältnissen, die nicht ganz den unsrigen entsprechen, abstrahirt
haben, so wird er sich doch auch bei uns als daS wirksamste Mittel erweisen,
die Krone und das Volk in eine innere nothwendige Beziehung zu bringen.


I. S.


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[0266] Voraussetzungen derselben widersprechen. Wir möchten fragen, ob denn der Begriff des Repräsentativsystems, den man allerdings aus der englischen Ver¬ fassung abstrahirt hat, nur unter den bestimmten Voraussetzungen denkbar ist, die in England maßgebend waren. Daß England im Wesentlichen eine zusam¬ menhängende Rechtsentwicklung gehabt hat, liegt, abgesehen von den sehr gewich¬ tigen Gründen, die Gneist anführt, doch hauptsächlich darin, daß es eine Insel ist, daß es seit einer Reihe von Jahren auf seinem Territorium keinen Feind gesehen hat, und daß es infolge dessen eine stehende Armee entbehren konyte. Was die Amtsgentry betrifft, so hat diese durch die Reformbill einen starken Stoß erlitten, und seit 18i6, seit dem schlagenden Erfolg einer Wirkung der Masse, kann man nicht mehr behaupten, daß es eine regierende Classe ist, die im Parlament miteinander beräth. Aber hier, wo es nicht mehr auf die augen¬ blickliche Nutzanwendung ankommt, legen wir die Kritik bei Seite. Die Dar¬ stellung der englischen Verfassung, wie sie uns Gneist in dem vorliegenden Werk als ein organisches Ganze analysirt, ist ein Meisterwerk. Mit einer Herrschaft über das Material, wie sie selbst bei den englischen Gelehrten nicht häufig vorkommt, mit einer klaren Einsicht in die factischen Zustände, die man einem Professor gewöhnlich abspricht, verbindet er eine tiefbegründete philoso¬ phisch-politische Rechtsbildung. Und auch für unsere eigne Fortentwicklung ist das Studium des Werks von einer weitgreifenden Bedeutung, denn es enthält, wenn auch nur für eine bestimmte Nation durchgeführt, die Analyse der ewigen Principien, die für je.de organische politische Schöpfung maßgebend bleiben werden. Wir können nicht mit Gneist annehmen»,, daß, um den frühern Bruch mit den historischen Principien der preußischen Entwicklung zu sühnen, ein zweiter Bruch nöthig ist. Wir glauben, daß auf dem jetzt betretenen Wege das Ziel zu erreichen ist, das, er selbst'sich vorsetzt. Allerdings^ war der preu¬ ßische Staat in seiner Entstehung eine Domäne des Hauses Hohenzollern, die Souveränetät dieser Fürsten, die klar die Bedürfnisse ihrer Zeit durchschauten und zäh daran festhielten, hat gewissermaßen erst das preußische Volk hervor¬ gebracht, und sie wird auch in dem constitutionellen Preußen zum Heil aller Volksclassen eine viel wichtigere Stelle behaupten, als in dem normannischen Heerkönigthum, wo sich das Staatsleben an die erobernde Aristokratie anknüpfte; aber das preußische Volk ist jetzt eine vollendete Thatsache, aus der Domäne ist ein Staat geworden, und wenn wir auch den Begriff des Constitutionalis- mus aus Verhältnissen, die nicht ganz den unsrigen entsprechen, abstrahirt haben, so wird er sich doch auch bei uns als daS wirksamste Mittel erweisen, die Krone und das Volk in eine innere nothwendige Beziehung zu bringen. I. S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/266>, abgerufen am 27.07.2024.