Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zweiten der genannten Bücher eine höchst fruchtbare Bereicherung der Geschichte
gegeben hat, die unserm wissenschaftlichen Scharfsinn und unserer politischen
Bildung auch in England Ehre machen wird.

- Die bisherigen Geschichtschreiber des englischen Staatsrechts hatten sast
ausschließlich die eigentliche Verfassung zu ihrem Gegenstand. Gneist schlägt
den umgekehrten Weg ein. Er zeigt, daß die englische Verfassung nichts
Anderes war als die äußerste Spitze der in strengster Folgerichtigkeit historisch
entwickelten Verwaltungsordnung. Von diesem Standpunkt hat er in dem
gegenwärtigen Buch, welches den ersten Band der allgemeinen englischen Rechts¬
geschichte bilden soll, zunächst die königlichen Prärogative und die Aemter
behandelt. Aus die künstlerische Darstellung verzichtet er vollständig; es kommt
ihm nur auf die kritisch gesichtete und logisch geordnete Folge der Thatsachen
an. Sein Zweck ist ein streng wissenschaftlicher, aber himmelweit von dem der
alten Compilatoren unterschieden, denn trotz der Form des Lehrbuchs, die er
beibehält, ist nicht blos alle unnöthige Gelehrsamkeit, an der es selbst Eichhorn
Zuweilen nicht fehlen läßt, durchaus vermieden, sondern ohne es zu beabsichti¬
gen, regt er uns beständig zu fruchtbarem Nachdenken auf und unterstützt
unsere Reflexionen durch seine eigne tiefe und umfassende Bildung.

Wie aber auch der objectivste Schriftsteller einen mit der Zeitrichtung zu-
lammenhängenden Hintergedanken nicht ganz vermeiden kann, so verfolgt Gneist
mit seinem Hauptzweck, die englische Verfassung in ihrem wunderbaren, festgefügten
Bau der gebildeten und eindringenden Bewunderung zu empfehlen, noch den zweiten,
die Nutzanwendungen zu widerlegen, die man seit Montesquieu von dem idealen
Inhalt jener Verfassung auf die kontinentalen Zustände zu ziehen pflegt. Mon¬
tesquieu verfuhr im Geist seines Jahrhunderts analytisch, er zerlegte die con-
crete Fülle des britischen Staatslebens durch das Mittel der Abstraction und
gewann daraus die bleibenden allgemein menschlichen Ideen, die man dann
in den Reformen des modernen Staatslebens fruchtbar zu verwerthen suchte.
Die Kritik dieser Versuche, gibt Gneist in einem ausführlichen Nachtrag, gegen
dessen Schluß wir zwar Protestiren müssen, der aber doch so bedeutend ist, daß
^ir ihn hier im Auszug wiedergeben.

Die politischen Korporationen, aus denen sich in England die Staats¬
verfassung entwickelte: Reichsstände, Landstände, geistliche Körperschaften, Ritter¬
orden, Universitäten, Städte, Gilden, Innungen, waren auch in Deutschland
vorhanden; allein aus ihnen entwickelte sich nicht ein gegliederter Staat, son¬
dern das Faustrecht. Wie in den übrigen Ländern Europas, wurde auch in
Deutschland die Nothwendigkeit eines allgemeinen, den ständischen Unterschieden
gegenüberstehenden Rechts die Ueberzeugung aller gebildeten Classen; aber in keinem
Lande Europas ist die Bildung des gemeinen Landesrechts so schonend und so
rücksichtsvoll für das Recht der höhern Stände durchgeführt. Freilich war mit


zweiten der genannten Bücher eine höchst fruchtbare Bereicherung der Geschichte
gegeben hat, die unserm wissenschaftlichen Scharfsinn und unserer politischen
Bildung auch in England Ehre machen wird.

- Die bisherigen Geschichtschreiber des englischen Staatsrechts hatten sast
ausschließlich die eigentliche Verfassung zu ihrem Gegenstand. Gneist schlägt
den umgekehrten Weg ein. Er zeigt, daß die englische Verfassung nichts
Anderes war als die äußerste Spitze der in strengster Folgerichtigkeit historisch
entwickelten Verwaltungsordnung. Von diesem Standpunkt hat er in dem
gegenwärtigen Buch, welches den ersten Band der allgemeinen englischen Rechts¬
geschichte bilden soll, zunächst die königlichen Prärogative und die Aemter
behandelt. Aus die künstlerische Darstellung verzichtet er vollständig; es kommt
ihm nur auf die kritisch gesichtete und logisch geordnete Folge der Thatsachen
an. Sein Zweck ist ein streng wissenschaftlicher, aber himmelweit von dem der
alten Compilatoren unterschieden, denn trotz der Form des Lehrbuchs, die er
beibehält, ist nicht blos alle unnöthige Gelehrsamkeit, an der es selbst Eichhorn
Zuweilen nicht fehlen läßt, durchaus vermieden, sondern ohne es zu beabsichti¬
gen, regt er uns beständig zu fruchtbarem Nachdenken auf und unterstützt
unsere Reflexionen durch seine eigne tiefe und umfassende Bildung.

Wie aber auch der objectivste Schriftsteller einen mit der Zeitrichtung zu-
lammenhängenden Hintergedanken nicht ganz vermeiden kann, so verfolgt Gneist
mit seinem Hauptzweck, die englische Verfassung in ihrem wunderbaren, festgefügten
Bau der gebildeten und eindringenden Bewunderung zu empfehlen, noch den zweiten,
die Nutzanwendungen zu widerlegen, die man seit Montesquieu von dem idealen
Inhalt jener Verfassung auf die kontinentalen Zustände zu ziehen pflegt. Mon¬
tesquieu verfuhr im Geist seines Jahrhunderts analytisch, er zerlegte die con-
crete Fülle des britischen Staatslebens durch das Mittel der Abstraction und
gewann daraus die bleibenden allgemein menschlichen Ideen, die man dann
in den Reformen des modernen Staatslebens fruchtbar zu verwerthen suchte.
Die Kritik dieser Versuche, gibt Gneist in einem ausführlichen Nachtrag, gegen
dessen Schluß wir zwar Protestiren müssen, der aber doch so bedeutend ist, daß
^ir ihn hier im Auszug wiedergeben.

Die politischen Korporationen, aus denen sich in England die Staats¬
verfassung entwickelte: Reichsstände, Landstände, geistliche Körperschaften, Ritter¬
orden, Universitäten, Städte, Gilden, Innungen, waren auch in Deutschland
vorhanden; allein aus ihnen entwickelte sich nicht ein gegliederter Staat, son¬
dern das Faustrecht. Wie in den übrigen Ländern Europas, wurde auch in
Deutschland die Nothwendigkeit eines allgemeinen, den ständischen Unterschieden
gegenüberstehenden Rechts die Ueberzeugung aller gebildeten Classen; aber in keinem
Lande Europas ist die Bildung des gemeinen Landesrechts so schonend und so
rücksichtsvoll für das Recht der höhern Stände durchgeführt. Freilich war mit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0253" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103920"/>
          <p xml:id="ID_740" prev="#ID_739"> zweiten der genannten Bücher eine höchst fruchtbare Bereicherung der Geschichte<lb/>
gegeben hat, die unserm wissenschaftlichen Scharfsinn und unserer politischen<lb/>
Bildung auch in England Ehre machen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_741"> - Die bisherigen Geschichtschreiber des englischen Staatsrechts hatten sast<lb/>
ausschließlich die eigentliche Verfassung zu ihrem Gegenstand. Gneist schlägt<lb/>
den umgekehrten Weg ein. Er zeigt, daß die englische Verfassung nichts<lb/>
Anderes war als die äußerste Spitze der in strengster Folgerichtigkeit historisch<lb/>
entwickelten Verwaltungsordnung. Von diesem Standpunkt hat er in dem<lb/>
gegenwärtigen Buch, welches den ersten Band der allgemeinen englischen Rechts¬<lb/>
geschichte bilden soll, zunächst die königlichen Prärogative und die Aemter<lb/>
behandelt. Aus die künstlerische Darstellung verzichtet er vollständig; es kommt<lb/>
ihm nur auf die kritisch gesichtete und logisch geordnete Folge der Thatsachen<lb/>
an. Sein Zweck ist ein streng wissenschaftlicher, aber himmelweit von dem der<lb/>
alten Compilatoren unterschieden, denn trotz der Form des Lehrbuchs, die er<lb/>
beibehält, ist nicht blos alle unnöthige Gelehrsamkeit, an der es selbst Eichhorn<lb/>
Zuweilen nicht fehlen läßt, durchaus vermieden, sondern ohne es zu beabsichti¬<lb/>
gen, regt er uns beständig zu fruchtbarem Nachdenken auf und unterstützt<lb/>
unsere Reflexionen durch seine eigne tiefe und umfassende Bildung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_742"> Wie aber auch der objectivste Schriftsteller einen mit der Zeitrichtung zu-<lb/>
lammenhängenden Hintergedanken nicht ganz vermeiden kann, so verfolgt Gneist<lb/>
mit seinem Hauptzweck, die englische Verfassung in ihrem wunderbaren, festgefügten<lb/>
Bau der gebildeten und eindringenden Bewunderung zu empfehlen, noch den zweiten,<lb/>
die Nutzanwendungen zu widerlegen, die man seit Montesquieu von dem idealen<lb/>
Inhalt jener Verfassung auf die kontinentalen Zustände zu ziehen pflegt. Mon¬<lb/>
tesquieu verfuhr im Geist seines Jahrhunderts analytisch, er zerlegte die con-<lb/>
crete Fülle des britischen Staatslebens durch das Mittel der Abstraction und<lb/>
gewann daraus die bleibenden allgemein menschlichen Ideen, die man dann<lb/>
in den Reformen des modernen Staatslebens fruchtbar zu verwerthen suchte.<lb/>
Die Kritik dieser Versuche, gibt Gneist in einem ausführlichen Nachtrag, gegen<lb/>
dessen Schluß wir zwar Protestiren müssen, der aber doch so bedeutend ist, daß<lb/>
^ir ihn hier im Auszug wiedergeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_743" next="#ID_744"> Die politischen Korporationen, aus denen sich in England die Staats¬<lb/>
verfassung entwickelte: Reichsstände, Landstände, geistliche Körperschaften, Ritter¬<lb/>
orden, Universitäten, Städte, Gilden, Innungen, waren auch in Deutschland<lb/>
vorhanden; allein aus ihnen entwickelte sich nicht ein gegliederter Staat, son¬<lb/>
dern das Faustrecht. Wie in den übrigen Ländern Europas, wurde auch in<lb/>
Deutschland die Nothwendigkeit eines allgemeinen, den ständischen Unterschieden<lb/>
gegenüberstehenden Rechts die Ueberzeugung aller gebildeten Classen; aber in keinem<lb/>
Lande Europas ist die Bildung des gemeinen Landesrechts so schonend und so<lb/>
rücksichtsvoll für das Recht der höhern Stände durchgeführt.  Freilich war mit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0253] zweiten der genannten Bücher eine höchst fruchtbare Bereicherung der Geschichte gegeben hat, die unserm wissenschaftlichen Scharfsinn und unserer politischen Bildung auch in England Ehre machen wird. - Die bisherigen Geschichtschreiber des englischen Staatsrechts hatten sast ausschließlich die eigentliche Verfassung zu ihrem Gegenstand. Gneist schlägt den umgekehrten Weg ein. Er zeigt, daß die englische Verfassung nichts Anderes war als die äußerste Spitze der in strengster Folgerichtigkeit historisch entwickelten Verwaltungsordnung. Von diesem Standpunkt hat er in dem gegenwärtigen Buch, welches den ersten Band der allgemeinen englischen Rechts¬ geschichte bilden soll, zunächst die königlichen Prärogative und die Aemter behandelt. Aus die künstlerische Darstellung verzichtet er vollständig; es kommt ihm nur auf die kritisch gesichtete und logisch geordnete Folge der Thatsachen an. Sein Zweck ist ein streng wissenschaftlicher, aber himmelweit von dem der alten Compilatoren unterschieden, denn trotz der Form des Lehrbuchs, die er beibehält, ist nicht blos alle unnöthige Gelehrsamkeit, an der es selbst Eichhorn Zuweilen nicht fehlen läßt, durchaus vermieden, sondern ohne es zu beabsichti¬ gen, regt er uns beständig zu fruchtbarem Nachdenken auf und unterstützt unsere Reflexionen durch seine eigne tiefe und umfassende Bildung. Wie aber auch der objectivste Schriftsteller einen mit der Zeitrichtung zu- lammenhängenden Hintergedanken nicht ganz vermeiden kann, so verfolgt Gneist mit seinem Hauptzweck, die englische Verfassung in ihrem wunderbaren, festgefügten Bau der gebildeten und eindringenden Bewunderung zu empfehlen, noch den zweiten, die Nutzanwendungen zu widerlegen, die man seit Montesquieu von dem idealen Inhalt jener Verfassung auf die kontinentalen Zustände zu ziehen pflegt. Mon¬ tesquieu verfuhr im Geist seines Jahrhunderts analytisch, er zerlegte die con- crete Fülle des britischen Staatslebens durch das Mittel der Abstraction und gewann daraus die bleibenden allgemein menschlichen Ideen, die man dann in den Reformen des modernen Staatslebens fruchtbar zu verwerthen suchte. Die Kritik dieser Versuche, gibt Gneist in einem ausführlichen Nachtrag, gegen dessen Schluß wir zwar Protestiren müssen, der aber doch so bedeutend ist, daß ^ir ihn hier im Auszug wiedergeben. Die politischen Korporationen, aus denen sich in England die Staats¬ verfassung entwickelte: Reichsstände, Landstände, geistliche Körperschaften, Ritter¬ orden, Universitäten, Städte, Gilden, Innungen, waren auch in Deutschland vorhanden; allein aus ihnen entwickelte sich nicht ein gegliederter Staat, son¬ dern das Faustrecht. Wie in den übrigen Ländern Europas, wurde auch in Deutschland die Nothwendigkeit eines allgemeinen, den ständischen Unterschieden gegenüberstehenden Rechts die Ueberzeugung aller gebildeten Classen; aber in keinem Lande Europas ist die Bildung des gemeinen Landesrechts so schonend und so rücksichtsvoll für das Recht der höhern Stände durchgeführt. Freilich war mit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/253
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/253>, abgerufen am 28.07.2024.