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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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die Freude einer souveränen Sophistik denken, die sich in den äußersten Con-
sequenzen gefällt. Das 17. Jahrhundert war das goldene Zeitalter der casui-
stischen Lehrbücher, in welchem, der vom Herzen und vom Gewissen vollkommen
losgerissene Verstand seine Bacchanalien feierte. Die Folianten Escobars und
der Uebrigen sind vergessen, aber sie sind durch die Letlrss provinLisles der Ewig¬
keit aufbewahrt, jener glänzenden Satire gegen den souveränen gottlosen Witz.
Den Jesuiten war es in jenen Schriften wenigstens zum Theil um praktische
Zwecke nicht zu thun; es war ein Rausch der Dialektik, die das Mittel ge¬
funden zu haben glaubte, alles zu beweisen, und nun am liebsten das Un¬
sinnige und Verworfene bewies. Seine casuistische Gewandtheit zeigt Calderon
hinlänglich in den Lustspielen, wo von den unbefangensten Cavalieren die
Conflicte des Ehrenpunkls mit einem Scharfsinn und einer pedantischen Gründ¬
lichkeit behandelt werden, die an Probstein erinnern; von der Spontaneität
des Handelns und der Empfindung ist keine Rede mehr. Die Pflicht ist ein
verwickeltes Rechenerempel geworden. Einen ähnlichen Calcul hat er aus die
Religion angewandt.

Viel wichtiger ist aber ein zweites Bedürfniß. Calderons Virtuosität
lag, wie oben bemerkt, hauptsächlich in der Ausmalung fieberhafter Stimmungen
u"v Erregungen. Dazu bedürfte er der Kontraste, und fast überall sehen wir
ihn darauf ausgehen, den Schauder des Bluts vor eiuer unbekannten geheim-
nißvollen Macht auszumalen. Die christliche Mythologie gab durch die Ge¬
heimnisse des Sündenfalls, der Erlösung, des Opfers ze., wenn man sie
sinnlich, gewissermaßen physikalisch auffaßte, den günstigsten Stoff zu solchen
Contrasten, und'da der bigotte Hof und pas bigotte Volk von Madrid, dessen
Phantasie durch die Autodafes demoralisirt war, voll dem Dichter Aehnliches
erwartete, so kam seine Neigung seiner Pflicht entgegen. Aber mit derselben
Virtuosität und mit demselben Behagen schildert er die Contraste der griechischen
Mythologie. Ovids Metamorphosen send ihm ein Evangelium, das seiner
Phantasie viel näher steht, alö die Bibel, in der sein sinnlicher Cultus wenig
Nahrung finden würde. Die Zahl seiner Stücke, bei denen die griechische
Mythologie zu Grunde liegt, ist fast ebenso groß, als die Zahl seiner christ¬
lichen Dramen, und in jenen waltet dieselbe Bildersprache, dieselbe sinnliche
Glut als in diesen. Es ist auch nicht zu verwundern, denn ob er seine Götter
Christus oder Apollo tauft, in beiden Fällen ist seine Religion ein sinnlicher
Naturdienst, und sein einziger wahrer Gott ist der Dionysos der griechischen
Mysterien, wie wir ihn aus Aristophanes kennen lernen, denn die burleske
Seite fehlt seiner Religion keineswegs.

Der Satz, daß vie glänzende Entwicklung der Kunst von der Kraft und
Gesundheit deS nationalen Lebens abhängt, läßt sich historisch nicht durch¬
führen. Das 17. Jahrhundert war für Spanien unstreitig ein Zeitalter des.
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die Freude einer souveränen Sophistik denken, die sich in den äußersten Con-
sequenzen gefällt. Das 17. Jahrhundert war das goldene Zeitalter der casui-
stischen Lehrbücher, in welchem, der vom Herzen und vom Gewissen vollkommen
losgerissene Verstand seine Bacchanalien feierte. Die Folianten Escobars und
der Uebrigen sind vergessen, aber sie sind durch die Letlrss provinLisles der Ewig¬
keit aufbewahrt, jener glänzenden Satire gegen den souveränen gottlosen Witz.
Den Jesuiten war es in jenen Schriften wenigstens zum Theil um praktische
Zwecke nicht zu thun; es war ein Rausch der Dialektik, die das Mittel ge¬
funden zu haben glaubte, alles zu beweisen, und nun am liebsten das Un¬
sinnige und Verworfene bewies. Seine casuistische Gewandtheit zeigt Calderon
hinlänglich in den Lustspielen, wo von den unbefangensten Cavalieren die
Conflicte des Ehrenpunkls mit einem Scharfsinn und einer pedantischen Gründ¬
lichkeit behandelt werden, die an Probstein erinnern; von der Spontaneität
des Handelns und der Empfindung ist keine Rede mehr. Die Pflicht ist ein
verwickeltes Rechenerempel geworden. Einen ähnlichen Calcul hat er aus die
Religion angewandt.

Viel wichtiger ist aber ein zweites Bedürfniß. Calderons Virtuosität
lag, wie oben bemerkt, hauptsächlich in der Ausmalung fieberhafter Stimmungen
u»v Erregungen. Dazu bedürfte er der Kontraste, und fast überall sehen wir
ihn darauf ausgehen, den Schauder des Bluts vor eiuer unbekannten geheim-
nißvollen Macht auszumalen. Die christliche Mythologie gab durch die Ge¬
heimnisse des Sündenfalls, der Erlösung, des Opfers ze., wenn man sie
sinnlich, gewissermaßen physikalisch auffaßte, den günstigsten Stoff zu solchen
Contrasten, und'da der bigotte Hof und pas bigotte Volk von Madrid, dessen
Phantasie durch die Autodafes demoralisirt war, voll dem Dichter Aehnliches
erwartete, so kam seine Neigung seiner Pflicht entgegen. Aber mit derselben
Virtuosität und mit demselben Behagen schildert er die Contraste der griechischen
Mythologie. Ovids Metamorphosen send ihm ein Evangelium, das seiner
Phantasie viel näher steht, alö die Bibel, in der sein sinnlicher Cultus wenig
Nahrung finden würde. Die Zahl seiner Stücke, bei denen die griechische
Mythologie zu Grunde liegt, ist fast ebenso groß, als die Zahl seiner christ¬
lichen Dramen, und in jenen waltet dieselbe Bildersprache, dieselbe sinnliche
Glut als in diesen. Es ist auch nicht zu verwundern, denn ob er seine Götter
Christus oder Apollo tauft, in beiden Fällen ist seine Religion ein sinnlicher
Naturdienst, und sein einziger wahrer Gott ist der Dionysos der griechischen
Mysterien, wie wir ihn aus Aristophanes kennen lernen, denn die burleske
Seite fehlt seiner Religion keineswegs.

Der Satz, daß vie glänzende Entwicklung der Kunst von der Kraft und
Gesundheit deS nationalen Lebens abhängt, läßt sich historisch nicht durch¬
führen. Das 17. Jahrhundert war für Spanien unstreitig ein Zeitalter des.
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[0239] die Freude einer souveränen Sophistik denken, die sich in den äußersten Con- sequenzen gefällt. Das 17. Jahrhundert war das goldene Zeitalter der casui- stischen Lehrbücher, in welchem, der vom Herzen und vom Gewissen vollkommen losgerissene Verstand seine Bacchanalien feierte. Die Folianten Escobars und der Uebrigen sind vergessen, aber sie sind durch die Letlrss provinLisles der Ewig¬ keit aufbewahrt, jener glänzenden Satire gegen den souveränen gottlosen Witz. Den Jesuiten war es in jenen Schriften wenigstens zum Theil um praktische Zwecke nicht zu thun; es war ein Rausch der Dialektik, die das Mittel ge¬ funden zu haben glaubte, alles zu beweisen, und nun am liebsten das Un¬ sinnige und Verworfene bewies. Seine casuistische Gewandtheit zeigt Calderon hinlänglich in den Lustspielen, wo von den unbefangensten Cavalieren die Conflicte des Ehrenpunkls mit einem Scharfsinn und einer pedantischen Gründ¬ lichkeit behandelt werden, die an Probstein erinnern; von der Spontaneität des Handelns und der Empfindung ist keine Rede mehr. Die Pflicht ist ein verwickeltes Rechenerempel geworden. Einen ähnlichen Calcul hat er aus die Religion angewandt. Viel wichtiger ist aber ein zweites Bedürfniß. Calderons Virtuosität lag, wie oben bemerkt, hauptsächlich in der Ausmalung fieberhafter Stimmungen u»v Erregungen. Dazu bedürfte er der Kontraste, und fast überall sehen wir ihn darauf ausgehen, den Schauder des Bluts vor eiuer unbekannten geheim- nißvollen Macht auszumalen. Die christliche Mythologie gab durch die Ge¬ heimnisse des Sündenfalls, der Erlösung, des Opfers ze., wenn man sie sinnlich, gewissermaßen physikalisch auffaßte, den günstigsten Stoff zu solchen Contrasten, und'da der bigotte Hof und pas bigotte Volk von Madrid, dessen Phantasie durch die Autodafes demoralisirt war, voll dem Dichter Aehnliches erwartete, so kam seine Neigung seiner Pflicht entgegen. Aber mit derselben Virtuosität und mit demselben Behagen schildert er die Contraste der griechischen Mythologie. Ovids Metamorphosen send ihm ein Evangelium, das seiner Phantasie viel näher steht, alö die Bibel, in der sein sinnlicher Cultus wenig Nahrung finden würde. Die Zahl seiner Stücke, bei denen die griechische Mythologie zu Grunde liegt, ist fast ebenso groß, als die Zahl seiner christ¬ lichen Dramen, und in jenen waltet dieselbe Bildersprache, dieselbe sinnliche Glut als in diesen. Es ist auch nicht zu verwundern, denn ob er seine Götter Christus oder Apollo tauft, in beiden Fällen ist seine Religion ein sinnlicher Naturdienst, und sein einziger wahrer Gott ist der Dionysos der griechischen Mysterien, wie wir ihn aus Aristophanes kennen lernen, denn die burleske Seite fehlt seiner Religion keineswegs. Der Satz, daß vie glänzende Entwicklung der Kunst von der Kraft und Gesundheit deS nationalen Lebens abhängt, läßt sich historisch nicht durch¬ führen. Das 17. Jahrhundert war für Spanien unstreitig ein Zeitalter des. '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/239>, abgerufen am 01.09.2024.