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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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ergibt sich, daß in der Wirklichkeit jener Reichthum nicht so groß ist, als er
erscheint. Eine Menge von Wendungen, Uebergängen, Verwicklungen wieder¬
holen sich, ja mitunter sind, ganze Scenen aus einem Stück in das andere
übertragen. Man führt es gewöhnlich als charakteristische Eigenschaft aller
romanischen Dichter an, daß ihnen die Fabel über alles geht, und daß die
Charakteristik ihr dienen muß. Wenn man dies aber auch im Allgemeinen zu¬
gibt, so muß man doch nicht vergessen, daß Calderon ein Zeitgenosse Molieres
und ein Landsmann von Cervantes war, und diesen beiden Dichtern die
Kunst der Charakteristik absprechen zu wollen, wäre ein wunderliches Unter¬
fangen. Auch bei Calderon finden sich Spuren von einer großen Kraft der
Zeichnung. Im Alcalden von Zalamea ist sehr scharf charakterisirt, nicht blos
zufällig, weil es der Gegenstand so mit sich brachte, sondern mit bestimmter,
absichtlicher Pointirung. Der Dichter hat für die beiden Hauptfiguren eine
Menge einzelner Züge zusammengesucht und sie mit einem außerordentlichen
Geschick zu einem Charaktergemälde gruppirt, während sonst in seinen Lust¬
spielen und Tragödien fast nur Masken auftreten, die sich zwar dem Alter,
dem Stande und der Situation nach unterscheiden, aber sonst bis zur Ver¬
wechselung ähnlich sind. Nun steht zwar der Alcalde den übrigen Stücken so
gegenüber, daß man den Dichter zuweilen gar nicht wiedererkennt; aber
auch anderwärts finden sich Anläufe zur Charakteristik, z. B. in: Stille
Wasser sind tief. Zur Zeit Schlegels war es allgemeine Sitte, in Calderon
nicht blos das Genie, sondern auch den großen Künstler zu ehren; eS scheint
aber doch, als ob er zu schnell gearbeitet hat, denn nicht blos ein großer
Theil seiner Lustspiele ist reine Improvisation, sondern auch in den ernsten
Stücken wird man, selbst bei wesentlichen Scenen, die Spuren arger Nach¬
lässigkeit nicht wegwischen.

Das Produciren wurde ihm zum Theil erleichtert durch die Melodie seiner
Sprache und den Glanz seiner Bilder. Auch dies hielt man in der Blütezeit
unserer romantischen Schule für einen besondern Vorzug, daß er in Stücken, die
man dem Stoff wie der Behandlung nach nur für einePosse nehmen konnte,
die höchste, überschwengliche Poesie anbrachte, eine Poesie, die nicht selten
in Schwulst ausartet, denn als Schwulst werden wir eS wol bezeichnen dürfen,
wenn der Sinn durch den Klang der Worte erstickt wird. In späterer Zeit,
wo man sich dem Realismus zuwandte, rechtfertigte man Calderon durch die
Sprechweise seines Volks und seiner Zeit. Indeß darf man dabei nicht über¬
sehen, daß er in Bezug auf den <Z8ti1c> oulto zur streitenden Schule gehörte,
und daß ein großer Theil seiner Landsleute, die noch unter Cervantes und
Lope groß geworden waren, sich ebenso über seine künstliche Sprechweise be¬
klagte, als wir. Auf alle Fälle werden wir in diesem Augenblick, wo man
von der Nothwendigkeit, die Gattungen zu trennen, wieder durchdrungen ist,


ergibt sich, daß in der Wirklichkeit jener Reichthum nicht so groß ist, als er
erscheint. Eine Menge von Wendungen, Uebergängen, Verwicklungen wieder¬
holen sich, ja mitunter sind, ganze Scenen aus einem Stück in das andere
übertragen. Man führt es gewöhnlich als charakteristische Eigenschaft aller
romanischen Dichter an, daß ihnen die Fabel über alles geht, und daß die
Charakteristik ihr dienen muß. Wenn man dies aber auch im Allgemeinen zu¬
gibt, so muß man doch nicht vergessen, daß Calderon ein Zeitgenosse Molieres
und ein Landsmann von Cervantes war, und diesen beiden Dichtern die
Kunst der Charakteristik absprechen zu wollen, wäre ein wunderliches Unter¬
fangen. Auch bei Calderon finden sich Spuren von einer großen Kraft der
Zeichnung. Im Alcalden von Zalamea ist sehr scharf charakterisirt, nicht blos
zufällig, weil es der Gegenstand so mit sich brachte, sondern mit bestimmter,
absichtlicher Pointirung. Der Dichter hat für die beiden Hauptfiguren eine
Menge einzelner Züge zusammengesucht und sie mit einem außerordentlichen
Geschick zu einem Charaktergemälde gruppirt, während sonst in seinen Lust¬
spielen und Tragödien fast nur Masken auftreten, die sich zwar dem Alter,
dem Stande und der Situation nach unterscheiden, aber sonst bis zur Ver¬
wechselung ähnlich sind. Nun steht zwar der Alcalde den übrigen Stücken so
gegenüber, daß man den Dichter zuweilen gar nicht wiedererkennt; aber
auch anderwärts finden sich Anläufe zur Charakteristik, z. B. in: Stille
Wasser sind tief. Zur Zeit Schlegels war es allgemeine Sitte, in Calderon
nicht blos das Genie, sondern auch den großen Künstler zu ehren; eS scheint
aber doch, als ob er zu schnell gearbeitet hat, denn nicht blos ein großer
Theil seiner Lustspiele ist reine Improvisation, sondern auch in den ernsten
Stücken wird man, selbst bei wesentlichen Scenen, die Spuren arger Nach¬
lässigkeit nicht wegwischen.

Das Produciren wurde ihm zum Theil erleichtert durch die Melodie seiner
Sprache und den Glanz seiner Bilder. Auch dies hielt man in der Blütezeit
unserer romantischen Schule für einen besondern Vorzug, daß er in Stücken, die
man dem Stoff wie der Behandlung nach nur für einePosse nehmen konnte,
die höchste, überschwengliche Poesie anbrachte, eine Poesie, die nicht selten
in Schwulst ausartet, denn als Schwulst werden wir eS wol bezeichnen dürfen,
wenn der Sinn durch den Klang der Worte erstickt wird. In späterer Zeit,
wo man sich dem Realismus zuwandte, rechtfertigte man Calderon durch die
Sprechweise seines Volks und seiner Zeit. Indeß darf man dabei nicht über¬
sehen, daß er in Bezug auf den <Z8ti1c> oulto zur streitenden Schule gehörte,
und daß ein großer Theil seiner Landsleute, die noch unter Cervantes und
Lope groß geworden waren, sich ebenso über seine künstliche Sprechweise be¬
klagte, als wir. Auf alle Fälle werden wir in diesem Augenblick, wo man
von der Nothwendigkeit, die Gattungen zu trennen, wieder durchdrungen ist,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/236>, abgerufen am 01.09.2024.