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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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neufranzösischen Romane erinnert; sie hat den Spleen, ist capriciös, verfällt
>n Schwermuth, ohne zu wissen, warum u. s, w; zuletzt ergibt sich denn, daß
sie das Vorgefühl gehabt, sie werde als Lösegeld für einen Leichnam aus¬
gewechselt werden. Auch Fernando scheint eine stille Liebe zu ihr zu hegen,
und nebenbei wird die Art und Weise seiner Aufopferung, sein Hunger, sein
Schreien nach Brot, der üble Geruch, den er von seinem Misthaufen aus
verbreitet, mit einer Breite und Deutlichkeit entwickelt, daß schon dem Leser
schlimm und weh zu Muthe wird. Die Stimmung des Stücks ist keineswegs
heroisch, wie man damals behauptete, sondern sentimental, und auch mit der
Religiosität deS Stücks hat es eine eigne Bewandtniß, sie wird fast ganz durch
die Galanterie erdrückt. Mit unsern Begriffen von einem Helden hat Fer¬
nando nicht die geringste Aehnlichkeit. Die Unterwürfigkeit, mit der er in
dem Bewußtsein, ein Sklave zu sein, sich vor dem mahomedanischen Könige
demüthigt,' stimmt weder mit unserm Ideale eines Kriegers, noch mit den
chevaleresken Sitten der Zeit überein, in der die Geschichte spielt. Von der
wilden, entsetzlichen Bigotterie, die in dem gleichzeitig veröffentlichten Stück,
der "Andacht zum Kreuz" sich ausspricht, wollen wir 'hier schweigen, da in
diesem Fall der augenblickliche Erfolg begreiflich war. Was der Dichter dar¬
stellen wollte, war abscheulich, aber er hat es mit einer seltenen poetischen
Kraft dargestellt. Die Verehrung der jüngern Romantiker, Werner, Hoff¬
mann, Fouqu6 2c., ist am begreiflichsten; denn ihnen kam es in letzter Instanz
nicht auf das Ritterthum und den Katholicismus, sondern auf Theatercoups
"n, und darin ist allerdings Calderon ohne Gleichen.

Die Fehler deS Dichters gehen, ästhetisch betrachtet, mit seinen Vorzügen
Hand in Hand. Zu seinen Vorzügen würden wir folgende rechnen: eine un¬
erschöpfliche Fülle der Erfindung, eine bezaubernde, hinreißende, magische
Kraft, Stimmungen leidenschaftlicher oder contemplativer Art auszudrücken,
und eine vornehme, überwiegend poetische Art der Empfindung. In den 4 08
Stücken, die wir von ihm h^ben, enthält fast jedes etwas Spannendes, in
der Intrigue oder in einzelnen Anekdoten, in der Fügung der Umstände, in
unerwarteten Explosionen; aber freilich wird ihm die Erfindung deshalb so
leicht, weil weder in seiner Bildung, noch in seinem poetischen Gewissen irgend
etwas vorhanden ist, ihr Widerstand zu leisten. Wir wollen von den Zu¬
fällen nicht reden, die sich >" seinen Lustspielen zusammendrängen und die
öfters allen Glauben übersteige": dem Lustspieldichter muß darin die möglichste
Freiheit verstattet bleiben; aber man studire die Fabel z. B. in der Sibylle
des Orient, oder in der Morgenröthe von Copacavana; in beiden ist Manches
"us der Ueberlieferung genommen, manches Eigne hinzugefügt. Jedenfalls
"reibt, die Phantasie ein souveränes Spiel, und die Gesetze der Physik, Psy¬
chologie und der Moral sind für sie nicht vorhanden. Bei genauerem Zusehen


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neufranzösischen Romane erinnert; sie hat den Spleen, ist capriciös, verfällt
>n Schwermuth, ohne zu wissen, warum u. s, w; zuletzt ergibt sich denn, daß
sie das Vorgefühl gehabt, sie werde als Lösegeld für einen Leichnam aus¬
gewechselt werden. Auch Fernando scheint eine stille Liebe zu ihr zu hegen,
und nebenbei wird die Art und Weise seiner Aufopferung, sein Hunger, sein
Schreien nach Brot, der üble Geruch, den er von seinem Misthaufen aus
verbreitet, mit einer Breite und Deutlichkeit entwickelt, daß schon dem Leser
schlimm und weh zu Muthe wird. Die Stimmung des Stücks ist keineswegs
heroisch, wie man damals behauptete, sondern sentimental, und auch mit der
Religiosität deS Stücks hat es eine eigne Bewandtniß, sie wird fast ganz durch
die Galanterie erdrückt. Mit unsern Begriffen von einem Helden hat Fer¬
nando nicht die geringste Aehnlichkeit. Die Unterwürfigkeit, mit der er in
dem Bewußtsein, ein Sklave zu sein, sich vor dem mahomedanischen Könige
demüthigt,' stimmt weder mit unserm Ideale eines Kriegers, noch mit den
chevaleresken Sitten der Zeit überein, in der die Geschichte spielt. Von der
wilden, entsetzlichen Bigotterie, die in dem gleichzeitig veröffentlichten Stück,
der „Andacht zum Kreuz" sich ausspricht, wollen wir 'hier schweigen, da in
diesem Fall der augenblickliche Erfolg begreiflich war. Was der Dichter dar¬
stellen wollte, war abscheulich, aber er hat es mit einer seltenen poetischen
Kraft dargestellt. Die Verehrung der jüngern Romantiker, Werner, Hoff¬
mann, Fouqu6 2c., ist am begreiflichsten; denn ihnen kam es in letzter Instanz
nicht auf das Ritterthum und den Katholicismus, sondern auf Theatercoups
"n, und darin ist allerdings Calderon ohne Gleichen.

Die Fehler deS Dichters gehen, ästhetisch betrachtet, mit seinen Vorzügen
Hand in Hand. Zu seinen Vorzügen würden wir folgende rechnen: eine un¬
erschöpfliche Fülle der Erfindung, eine bezaubernde, hinreißende, magische
Kraft, Stimmungen leidenschaftlicher oder contemplativer Art auszudrücken,
und eine vornehme, überwiegend poetische Art der Empfindung. In den 4 08
Stücken, die wir von ihm h^ben, enthält fast jedes etwas Spannendes, in
der Intrigue oder in einzelnen Anekdoten, in der Fügung der Umstände, in
unerwarteten Explosionen; aber freilich wird ihm die Erfindung deshalb so
leicht, weil weder in seiner Bildung, noch in seinem poetischen Gewissen irgend
etwas vorhanden ist, ihr Widerstand zu leisten. Wir wollen von den Zu¬
fällen nicht reden, die sich >» seinen Lustspielen zusammendrängen und die
öfters allen Glauben übersteige»: dem Lustspieldichter muß darin die möglichste
Freiheit verstattet bleiben; aber man studire die Fabel z. B. in der Sibylle
des Orient, oder in der Morgenröthe von Copacavana; in beiden ist Manches
"us der Ueberlieferung genommen, manches Eigne hinzugefügt. Jedenfalls
»reibt, die Phantasie ein souveränes Spiel, und die Gesetze der Physik, Psy¬
chologie und der Moral sind für sie nicht vorhanden. Bei genauerem Zusehen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/235>, abgerufen am 01.09.2024.