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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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des Michelangelo in der Karthause von Neapel; Chamisso hat diese Sage in
einem Gedicht behandelt. Es scheint also, als wenn auch die Sage von dem
Prometheus des Parrhasius nicht in dem Gehirn der Rhetoren entsprungen ist.
sondern in der schaudernden Bewunderung, die das Bild durch seine Wahrheit
einflößte. Beiläufig gesagt, haben wir noch Notizen über die verschiedenen
Reden, welche über dies Thema gehalten worden sind. Einer der Rhetoren
hatte unter andern dem Parrhasius zur Last gelegt, daß er Martern eines
Gottes dargestellt habe. Kaum irgendwo tritt der Gegensatz der antiken Kunst
gegen die christliche greller hervor als hier, wo ein Gegenstand vom Stand¬
punkt der Frömmigkeit aus verworfen wird, der in der christlichen Welt Meißel
und Pinsel grade der frömmsten Künstler am meisten beschäftigt hat.

Ebenso wie Reden wurden auch Korrespondenzen berühmter Männer im
Alterthum, geschrieben, auch diese gewöhnlich nicht in der Absicht damit zu
täuschen, sondern theils zur Uebung, theils zur Ostentation. In der neueren
Zeit haben sie jedoch als echt gegolten, und sind als Quellen benutzt worden,
bis Bentlev durch seine Abhandlung über die Briefe des Phalaris und über
die Briefe des Themistokles, Sokrates. Euripides der gelehrten Welt hierüber
die Augen öffnete. So wenig bedeutend der Gegenstand dieser Schrift war.
so ist sie doch eine der folgenreichsten in der ganzen philologischen Literatur
gewesen. Denn dadurch, daß hier zum ersten Mal eine Ueberlieferung um¬
gestoßen wurde, die Jahrhunderte hindurch als echt gegolten hatte, fing die
bis dahin unangreifbare Autorität der Ueberlieferung überhaupt an zu wanken,
und eine Kritik, die früher als ruchloser Skepticismus verdammt worden wäre,
gewann den Muth hervorzutreten. So ist in gewissem Sinn Bentleys Schrift
über die Briefe des Phalaris die Vorläuferin von F. A. Wolfs Untersuchungen
über die homerischen Gedichte gewesen.

Lehrs schloß diese Abhandlung bei ihrem ersten Erscheinen (<8i7) mit
folgenden Worten Dahlmanns: ..Wer das tägliche Leben kennt oder auch nur
die Zeitungen, weiß, daß neben jeder bedeutenden Thatsache eine Menge von
falschen Auswüchsen wuchert, von absichtlichen oder unabsichtlicher Entstellungen,
selten alle bis zu ihrer Geburtsstätte zu verfolgen, aber alle dem reifen Be¬
urtheiler vollkommen gleichgiltig. Von der beliebten conciliatorischen Kritik
dagegen wird jeder Notizenzuwachs als bqarer Gewinn an Vermögen betrach¬
tet: <Milet praesumiwr dorn8; und muß wegen allzudringenden Verdachts
auch ein Anklagezustand eintreten, man glaubt dennoch zur Defension alles
Erdenkliche und kaum Erdenkliche versuchen zu müssen." --

Seit Schiller zuerst in dem Aufsatz über naive und sentimentale Dichtung
auf den Mangel an Naturbeschreibungen in der antiken Poesie aufmerksam
gemacht hat, haben viele den Alten das Naturgefühl ganz abgesprochen. Um
diese Ansicht zu widerlegen, hat Alexander von Humboldt im Kosmos aus der


des Michelangelo in der Karthause von Neapel; Chamisso hat diese Sage in
einem Gedicht behandelt. Es scheint also, als wenn auch die Sage von dem
Prometheus des Parrhasius nicht in dem Gehirn der Rhetoren entsprungen ist.
sondern in der schaudernden Bewunderung, die das Bild durch seine Wahrheit
einflößte. Beiläufig gesagt, haben wir noch Notizen über die verschiedenen
Reden, welche über dies Thema gehalten worden sind. Einer der Rhetoren
hatte unter andern dem Parrhasius zur Last gelegt, daß er Martern eines
Gottes dargestellt habe. Kaum irgendwo tritt der Gegensatz der antiken Kunst
gegen die christliche greller hervor als hier, wo ein Gegenstand vom Stand¬
punkt der Frömmigkeit aus verworfen wird, der in der christlichen Welt Meißel
und Pinsel grade der frömmsten Künstler am meisten beschäftigt hat.

Ebenso wie Reden wurden auch Korrespondenzen berühmter Männer im
Alterthum, geschrieben, auch diese gewöhnlich nicht in der Absicht damit zu
täuschen, sondern theils zur Uebung, theils zur Ostentation. In der neueren
Zeit haben sie jedoch als echt gegolten, und sind als Quellen benutzt worden,
bis Bentlev durch seine Abhandlung über die Briefe des Phalaris und über
die Briefe des Themistokles, Sokrates. Euripides der gelehrten Welt hierüber
die Augen öffnete. So wenig bedeutend der Gegenstand dieser Schrift war.
so ist sie doch eine der folgenreichsten in der ganzen philologischen Literatur
gewesen. Denn dadurch, daß hier zum ersten Mal eine Ueberlieferung um¬
gestoßen wurde, die Jahrhunderte hindurch als echt gegolten hatte, fing die
bis dahin unangreifbare Autorität der Ueberlieferung überhaupt an zu wanken,
und eine Kritik, die früher als ruchloser Skepticismus verdammt worden wäre,
gewann den Muth hervorzutreten. So ist in gewissem Sinn Bentleys Schrift
über die Briefe des Phalaris die Vorläuferin von F. A. Wolfs Untersuchungen
über die homerischen Gedichte gewesen.

Lehrs schloß diese Abhandlung bei ihrem ersten Erscheinen (<8i7) mit
folgenden Worten Dahlmanns: ..Wer das tägliche Leben kennt oder auch nur
die Zeitungen, weiß, daß neben jeder bedeutenden Thatsache eine Menge von
falschen Auswüchsen wuchert, von absichtlichen oder unabsichtlicher Entstellungen,
selten alle bis zu ihrer Geburtsstätte zu verfolgen, aber alle dem reifen Be¬
urtheiler vollkommen gleichgiltig. Von der beliebten conciliatorischen Kritik
dagegen wird jeder Notizenzuwachs als bqarer Gewinn an Vermögen betrach¬
tet: <Milet praesumiwr dorn8; und muß wegen allzudringenden Verdachts
auch ein Anklagezustand eintreten, man glaubt dennoch zur Defension alles
Erdenkliche und kaum Erdenkliche versuchen zu müssen." —

Seit Schiller zuerst in dem Aufsatz über naive und sentimentale Dichtung
auf den Mangel an Naturbeschreibungen in der antiken Poesie aufmerksam
gemacht hat, haben viele den Alten das Naturgefühl ganz abgesprochen. Um
diese Ansicht zu widerlegen, hat Alexander von Humboldt im Kosmos aus der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/23>, abgerufen am 28.07.2024.