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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Zwecken ausbeutet. Glücklicher als sein Meister, war es Chenier vergönnt,
den Ideen, die er in seinen! Tragödien aussprach, im praktischen Leben
Folge zu geben; er wiederholte die Declamationen seiner Helden aus der
Rednerbühne: um so bitterer mußte er die später eintretende Enttäuschung
empfinden.

Der Vater der beiden Brüder, Louis de Eherner, wär seit 47S3 fran¬
zösischer Resident in Konstantinopel und mit einer Griechin verheirathet, die
ihrer Zeit wegen ihrer großen Schönheit gefeiert war. Hier wurden Andre
1762, Joseph 1764 geboren. Kurze Zeit nach der Geburt des letztern wurde
der Vater zurückberufen, und die Familie lebte drei Jahre hindurch in stiller
Ziitückgezogenheit im Vaterlande. Während dann der Vater eine diplomatische
Stellung in Marocco bekleidete, wurden die Söhne zuerst bei einer Tante in
Languedoc, dann seit 1774 auf dem Lyceum zu Navarre erzogen. Andre
nahm seine Studien sehr ernst. Seine Kenntniß des Griechischen, wobei ihn
der Geschmack seiner Mutter unterstützte, war ebenso sein als tief eindringend,
Und er lebte still für sich hin, während der jüngere Bruder die Schulstudien
bei Seite ließ, Voltaire las und wegen zahlreicher schlechter Verse von seinen
Lehrern, die er als angehender Genius gründlich verachtete, öfters bestraft
wurde. Die Gesellschaften seiner Mutter, die namentlich seit 1784, wo ihr
Mann nach Paris zurückkehrte, die bedeutendsten Schriftsteller um sich ver¬
sammelte, bestärkten ihn in seinem Geschmack für die Poesie, die er gleich
seinen Lehrmeistern ganz rhetorisch auffaßte. Dann schickte man die beiden
Brüder ins Militär; Andre hielt es nur sechs Monate aus, Joseph zwei
Jahre. Er hatte diese Zeit dazu benutzt, seine Studien wohl oder übel zu
ergänzen, und sand sich dann mit seinem Bruder wieder in Paris zusammen.
Beide theilten einander ihre Gedichte mit; aber während Andre mühsam ar¬
beitete, um seinem Stil jene Zartheit und jenen poetischen Duft zu geben, die
ihm zunächst in der Erscheinung seiner Mutter entgegentrat, und deren Ideale
er dann in der Weise der Griechen bald bei Fanny, bald bei Camille suchte,
stossen dem jüngern Bruder die patriotischen Gedichte leicht dahin, wobei sie
freilich mehr Wärme als Noblesse zeigten.

Eifrig wie er war, gab er bereits im Sommer 1783 ein sehr schwaches
Stück: llaKAr, on, 1e MK"z suppose, dem französischen Theater, und drang
mit einer so unendlichen Ausdauer und so viel Selbstgefühl aus die Aufführung,
daß diese im November 178S wirklich stattfand. Das Stück wurde vom Be¬
ginn des ersten Acts an ausgezischt, aber der Dichter ließ sich nicht einschüch¬
tern. Von bei, drei Stücken, die er in der Mappe hatte: Der sterbende Oe-
dipus, Brutus, und Azemirc, übergab er 1786 daS letztere. Es wurde zuerst bei
Hofe, dann in Paris aufgeführt und fiel an beiden Orten so vollständig durch,
daß sämmtliche Kritiker Frankreichs mit den gröbsten Schmähungen über ihn her-


Grenzbvten II. 18S7. 23

Zwecken ausbeutet. Glücklicher als sein Meister, war es Chenier vergönnt,
den Ideen, die er in seinen! Tragödien aussprach, im praktischen Leben
Folge zu geben; er wiederholte die Declamationen seiner Helden aus der
Rednerbühne: um so bitterer mußte er die später eintretende Enttäuschung
empfinden.

Der Vater der beiden Brüder, Louis de Eherner, wär seit 47S3 fran¬
zösischer Resident in Konstantinopel und mit einer Griechin verheirathet, die
ihrer Zeit wegen ihrer großen Schönheit gefeiert war. Hier wurden Andre
1762, Joseph 1764 geboren. Kurze Zeit nach der Geburt des letztern wurde
der Vater zurückberufen, und die Familie lebte drei Jahre hindurch in stiller
Ziitückgezogenheit im Vaterlande. Während dann der Vater eine diplomatische
Stellung in Marocco bekleidete, wurden die Söhne zuerst bei einer Tante in
Languedoc, dann seit 1774 auf dem Lyceum zu Navarre erzogen. Andre
nahm seine Studien sehr ernst. Seine Kenntniß des Griechischen, wobei ihn
der Geschmack seiner Mutter unterstützte, war ebenso sein als tief eindringend,
Und er lebte still für sich hin, während der jüngere Bruder die Schulstudien
bei Seite ließ, Voltaire las und wegen zahlreicher schlechter Verse von seinen
Lehrern, die er als angehender Genius gründlich verachtete, öfters bestraft
wurde. Die Gesellschaften seiner Mutter, die namentlich seit 1784, wo ihr
Mann nach Paris zurückkehrte, die bedeutendsten Schriftsteller um sich ver¬
sammelte, bestärkten ihn in seinem Geschmack für die Poesie, die er gleich
seinen Lehrmeistern ganz rhetorisch auffaßte. Dann schickte man die beiden
Brüder ins Militär; Andre hielt es nur sechs Monate aus, Joseph zwei
Jahre. Er hatte diese Zeit dazu benutzt, seine Studien wohl oder übel zu
ergänzen, und sand sich dann mit seinem Bruder wieder in Paris zusammen.
Beide theilten einander ihre Gedichte mit; aber während Andre mühsam ar¬
beitete, um seinem Stil jene Zartheit und jenen poetischen Duft zu geben, die
ihm zunächst in der Erscheinung seiner Mutter entgegentrat, und deren Ideale
er dann in der Weise der Griechen bald bei Fanny, bald bei Camille suchte,
stossen dem jüngern Bruder die patriotischen Gedichte leicht dahin, wobei sie
freilich mehr Wärme als Noblesse zeigten.

Eifrig wie er war, gab er bereits im Sommer 1783 ein sehr schwaches
Stück: llaKAr, on, 1e MK«z suppose, dem französischen Theater, und drang
mit einer so unendlichen Ausdauer und so viel Selbstgefühl aus die Aufführung,
daß diese im November 178S wirklich stattfand. Das Stück wurde vom Be¬
ginn des ersten Acts an ausgezischt, aber der Dichter ließ sich nicht einschüch¬
tern. Von bei, drei Stücken, die er in der Mappe hatte: Der sterbende Oe-
dipus, Brutus, und Azemirc, übergab er 1786 daS letztere. Es wurde zuerst bei
Hofe, dann in Paris aufgeführt und fiel an beiden Orten so vollständig durch,
daß sämmtliche Kritiker Frankreichs mit den gröbsten Schmähungen über ihn her-


Grenzbvten II. 18S7. 23
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[0185] Zwecken ausbeutet. Glücklicher als sein Meister, war es Chenier vergönnt, den Ideen, die er in seinen! Tragödien aussprach, im praktischen Leben Folge zu geben; er wiederholte die Declamationen seiner Helden aus der Rednerbühne: um so bitterer mußte er die später eintretende Enttäuschung empfinden. Der Vater der beiden Brüder, Louis de Eherner, wär seit 47S3 fran¬ zösischer Resident in Konstantinopel und mit einer Griechin verheirathet, die ihrer Zeit wegen ihrer großen Schönheit gefeiert war. Hier wurden Andre 1762, Joseph 1764 geboren. Kurze Zeit nach der Geburt des letztern wurde der Vater zurückberufen, und die Familie lebte drei Jahre hindurch in stiller Ziitückgezogenheit im Vaterlande. Während dann der Vater eine diplomatische Stellung in Marocco bekleidete, wurden die Söhne zuerst bei einer Tante in Languedoc, dann seit 1774 auf dem Lyceum zu Navarre erzogen. Andre nahm seine Studien sehr ernst. Seine Kenntniß des Griechischen, wobei ihn der Geschmack seiner Mutter unterstützte, war ebenso sein als tief eindringend, Und er lebte still für sich hin, während der jüngere Bruder die Schulstudien bei Seite ließ, Voltaire las und wegen zahlreicher schlechter Verse von seinen Lehrern, die er als angehender Genius gründlich verachtete, öfters bestraft wurde. Die Gesellschaften seiner Mutter, die namentlich seit 1784, wo ihr Mann nach Paris zurückkehrte, die bedeutendsten Schriftsteller um sich ver¬ sammelte, bestärkten ihn in seinem Geschmack für die Poesie, die er gleich seinen Lehrmeistern ganz rhetorisch auffaßte. Dann schickte man die beiden Brüder ins Militär; Andre hielt es nur sechs Monate aus, Joseph zwei Jahre. Er hatte diese Zeit dazu benutzt, seine Studien wohl oder übel zu ergänzen, und sand sich dann mit seinem Bruder wieder in Paris zusammen. Beide theilten einander ihre Gedichte mit; aber während Andre mühsam ar¬ beitete, um seinem Stil jene Zartheit und jenen poetischen Duft zu geben, die ihm zunächst in der Erscheinung seiner Mutter entgegentrat, und deren Ideale er dann in der Weise der Griechen bald bei Fanny, bald bei Camille suchte, stossen dem jüngern Bruder die patriotischen Gedichte leicht dahin, wobei sie freilich mehr Wärme als Noblesse zeigten. Eifrig wie er war, gab er bereits im Sommer 1783 ein sehr schwaches Stück: llaKAr, on, 1e MK«z suppose, dem französischen Theater, und drang mit einer so unendlichen Ausdauer und so viel Selbstgefühl aus die Aufführung, daß diese im November 178S wirklich stattfand. Das Stück wurde vom Be¬ ginn des ersten Acts an ausgezischt, aber der Dichter ließ sich nicht einschüch¬ tern. Von bei, drei Stücken, die er in der Mappe hatte: Der sterbende Oe- dipus, Brutus, und Azemirc, übergab er 1786 daS letztere. Es wurde zuerst bei Hofe, dann in Paris aufgeführt und fiel an beiden Orten so vollständig durch, daß sämmtliche Kritiker Frankreichs mit den gröbsten Schmähungen über ihn her- Grenzbvten II. 18S7. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/185>, abgerufen am 28.07.2024.