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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Zeitgeist am meisten verwandt war, verstummte. In der Revolution von 1789
zeigt sich die Stockung am auffallendsten auf dem Theater. Die Leistungen waren
zwar seit dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nicht glänzend ge¬
wesen, einzelne Ausnahmen abgerechnet, z. B. Beaumarchais, aber jedes neue
Stück war ein Ereigniß und wurde nach ästhetischen Gesetzen commentirt. Seit
dem Bastillesturm fragte man nur nach der Tendenz, oder, bestimmter aus¬
gedrückt, nach der Phrase , und es dauerte nicht lange, bis man die Freiheits¬
liebe nach dem Cynismus der Phrase berechnete.


Vouloz-vous an Public: eiiptivor lo füllt-uxe,
, Du mol ein luibsrlü soupouclro/ outre ouvraxe.
mot mugiuuo et elisr luit p^üller et'esprit,
I/ouvraAe le plus plat et le plus mal üerit.

Zu Anfang der Bewegung waren die Theater liberal, aber royalistisch
gesinnt. Mit besonderer Vorliebe suchte man in ältern Stücken, z. B. von
Destouches, die Schilderungen wohlgesinnter Minister- hervor. Man rühmte
die königliche Gewalt, gab ihr aber zugleich gute Lehren. Es wurden Epi¬
soden aus dem Leben Heinrichs IV. dargestellt, in denen die volksfreundliche
Gesinnung der Krone empfohlen wurde. Auf Heinrich IV. folgte der minder
bekannte bürgerfreundliche Ludwig XII., der noch ziemlich spät sowol von Collot
d'Herbois als von Nonsin, den spätern Terroristen, mit directen, höchst
schmeichelhaften Anspielungen auf den "Wiederhersteller der französischen Freiheit"
bearbeitet wurde. Dabei fehlte es nicht an grellen Darstellungen böser Könige.
So in der Marie de Brabant von Imbert, im Don Carlos von Lefevre.
Epochemachend war die Aufführung des Charles IX. von Joseph Chenier.

Die Gebrüder Chcwier haben ein wunderbares Schicksal gehabt. Andre,
der ältere, in poetischer Beziehung unendlich bedeutender, wurde zur Zeit
seines Lebens wenig beachtet, bis endlich seine Hinrichtung zwei Tage vor
dem 9. Thermidor die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Seine Gedichte waren
nur den Eingeweihten bekannt. Als sie 18-19 veröffentlicht wurden, brachten
sie in der französischen Lyrik eine vollständige Revolution hervor, und fast
von allen Kritikern wurde seitdem.Andre Chenier als einer der ersten oder
als der erste Lyriker Frankreichs gefeiert. Der jüngere Bruder Joseph hatte
das umgekehrte Schicksal. Während der Revolutionszeit galten seine republi¬
kanischen Tragödien als Meisterstücke ersten Ranges; dann verfiel er mehr
und mehr in Vergessenheit. Obgleich er als Dichter kaum den zweiten Rang
in Anspruch nehmen kann, hat seine Geschichte doch auch für Deutschland
Interesse, denn sie zeigt, wie sich die Dichtkunst in einem leidenschaftlichen
Kopf zur Zeit einer revolutionären Gährung entwickelt, und wie sie von der
Menge aufgefaßt wird. Er ist der letzte bedeutende Vertreter jener Schule
Voltaires, welche die Poesie zur Rhetorik, die Rhetorik zu demagogischen


Zeitgeist am meisten verwandt war, verstummte. In der Revolution von 1789
zeigt sich die Stockung am auffallendsten auf dem Theater. Die Leistungen waren
zwar seit dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nicht glänzend ge¬
wesen, einzelne Ausnahmen abgerechnet, z. B. Beaumarchais, aber jedes neue
Stück war ein Ereigniß und wurde nach ästhetischen Gesetzen commentirt. Seit
dem Bastillesturm fragte man nur nach der Tendenz, oder, bestimmter aus¬
gedrückt, nach der Phrase , und es dauerte nicht lange, bis man die Freiheits¬
liebe nach dem Cynismus der Phrase berechnete.


Vouloz-vous an Public: eiiptivor lo füllt-uxe,
, Du mol ein luibsrlü soupouclro/ outre ouvraxe.
mot mugiuuo et elisr luit p^üller et'esprit,
I/ouvraAe le plus plat et le plus mal üerit.

Zu Anfang der Bewegung waren die Theater liberal, aber royalistisch
gesinnt. Mit besonderer Vorliebe suchte man in ältern Stücken, z. B. von
Destouches, die Schilderungen wohlgesinnter Minister- hervor. Man rühmte
die königliche Gewalt, gab ihr aber zugleich gute Lehren. Es wurden Epi¬
soden aus dem Leben Heinrichs IV. dargestellt, in denen die volksfreundliche
Gesinnung der Krone empfohlen wurde. Auf Heinrich IV. folgte der minder
bekannte bürgerfreundliche Ludwig XII., der noch ziemlich spät sowol von Collot
d'Herbois als von Nonsin, den spätern Terroristen, mit directen, höchst
schmeichelhaften Anspielungen auf den „Wiederhersteller der französischen Freiheit"
bearbeitet wurde. Dabei fehlte es nicht an grellen Darstellungen böser Könige.
So in der Marie de Brabant von Imbert, im Don Carlos von Lefevre.
Epochemachend war die Aufführung des Charles IX. von Joseph Chenier.

Die Gebrüder Chcwier haben ein wunderbares Schicksal gehabt. Andre,
der ältere, in poetischer Beziehung unendlich bedeutender, wurde zur Zeit
seines Lebens wenig beachtet, bis endlich seine Hinrichtung zwei Tage vor
dem 9. Thermidor die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Seine Gedichte waren
nur den Eingeweihten bekannt. Als sie 18-19 veröffentlicht wurden, brachten
sie in der französischen Lyrik eine vollständige Revolution hervor, und fast
von allen Kritikern wurde seitdem.Andre Chenier als einer der ersten oder
als der erste Lyriker Frankreichs gefeiert. Der jüngere Bruder Joseph hatte
das umgekehrte Schicksal. Während der Revolutionszeit galten seine republi¬
kanischen Tragödien als Meisterstücke ersten Ranges; dann verfiel er mehr
und mehr in Vergessenheit. Obgleich er als Dichter kaum den zweiten Rang
in Anspruch nehmen kann, hat seine Geschichte doch auch für Deutschland
Interesse, denn sie zeigt, wie sich die Dichtkunst in einem leidenschaftlichen
Kopf zur Zeit einer revolutionären Gährung entwickelt, und wie sie von der
Menge aufgefaßt wird. Er ist der letzte bedeutende Vertreter jener Schule
Voltaires, welche die Poesie zur Rhetorik, die Rhetorik zu demagogischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/184>, abgerufen am 28.07.2024.