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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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haben; nicht zu wissen, daß die Studentenzüge der Neuzeit (1843) die natür¬
liche Reaction gegen die deutsch-Schleswig-holsteinische Bewegung gebildet, nicht
ZU begreifen, daß der von den deutschen Großmächten unterstützte Angriff der
holsteinischen Ritter aus den Gesammtstaat und die dadurch offenkundig gewor¬
dene Gebrechlichkeit und Gefährlichkeit dieses Staates, der letzte Stoß war,
der zur Entwickelung der Idee geführt. Hat der Krieg solche irgendwie ge¬
fördert, so geschal) dies nicht durch den todtgebornen Neutralitätötractät der
nordischen Reiche vom December 18S3, sondern vermöge des Bündnisses zwi¬
schen Schweden-Norwegen und den Westmächten vom November 1853, so weit
diese Länder dadurch von Rußlands Druck sich befreiten und auf eine Ge¬
meinschaft mit ihrem dritten nordischen Stammgenossen hingewiesen wurden.
Das "Poetische" ist der Mühlenstein, mit dem die Idee in dem diplomatischen
Tintenfaß hat ersäuft werben sollen; ja wol, sie ist poetisch, weil sie die tief¬
sten Saiten in der Brust der Völker anschlägt, wie hätte sie sonst Jahrhun¬
derte hindurch leben können! aber sie ist zugleich historisch, sie war schon
ausgeführt, man hat ihr nachgestrebt, sie nie aus den Augen verloren; von
anderen nationalen Einheitsgedanken, dem panslavistischen, dem deutschen, dem
iberischen, dem italienischen läßt sich ein solches unausgesetztes nachstreben
nicht behaupten. "Die Geschichte hat," erklärt die Note, "der Idee nie einen
bestimmteren Charakter anzuweisen vermocht, und von der Unmöglichkeit ihrer
Praktischen Verwirklichung hätte sie für immer verschwinden müssen." Ja, un¬
leugbar wäre es für v. Scheel glücklicher gewesen, wenn sie verschwunden, ehe
er königlich dänischer Minister des Auswärtigen geworden; die Gelegenheit
seine Ignoranz aufzudecken hätte er dann vermieden, aber man kann Ideen
nicht so leicht verschwinden machen, wie Marionettenpuppen, wenn sie unbe¬
quem sind; und obendrein ist jene Rede eine abgeschmackte; jedes Kind weiß
ja, daß während 130 Jahre etwas bestanden, das kalmarische Union hieß, die
an keinen anderen Unmöglichkeiten strandete, als an deutschen Wahlkönigen
und einem eigenmächtigen und eigennützigen Adel, wogegen der derzeit allein
aufgeklärte Stand der Geistlichkeit treu der Union zur Seite stand und sie
wahrscheinlich erhalten hätte, wenn nicht Christians II. Henkerbeil ihr das
Haupt abgeschlagen. Abgeschmackt ist es, daß v. Scheel klüger sein will in
der Politik als die ersten Staatsmänner Griffenseld und Bernstorff, kundiger
in der Geschichte als Holberg und Geijer, daß er den grundprosaischen
Friedrich VI. und den doch ziemlich "praktischen" Napoleon I. zu Poetischen
Schwärmern macht. Und doch wird diese Schwärmerei gefährlich genannt,
also die bestehende Ordnung ist entweder ein Kartenhaus, das ein luftiges
Phantasiegebilde wegblasen kann, oder das Gebilde muß Fleisch und Blut
unter seiner Nebelkappe verbergen. Was die beiden "blühenden Dynastien^
betrifft, so ist der Horizont unseres Vaterlandes so bewölkt, daß man sich wol


22'°

haben; nicht zu wissen, daß die Studentenzüge der Neuzeit (1843) die natür¬
liche Reaction gegen die deutsch-Schleswig-holsteinische Bewegung gebildet, nicht
ZU begreifen, daß der von den deutschen Großmächten unterstützte Angriff der
holsteinischen Ritter aus den Gesammtstaat und die dadurch offenkundig gewor¬
dene Gebrechlichkeit und Gefährlichkeit dieses Staates, der letzte Stoß war,
der zur Entwickelung der Idee geführt. Hat der Krieg solche irgendwie ge¬
fördert, so geschal) dies nicht durch den todtgebornen Neutralitätötractät der
nordischen Reiche vom December 18S3, sondern vermöge des Bündnisses zwi¬
schen Schweden-Norwegen und den Westmächten vom November 1853, so weit
diese Länder dadurch von Rußlands Druck sich befreiten und auf eine Ge¬
meinschaft mit ihrem dritten nordischen Stammgenossen hingewiesen wurden.
Das „Poetische" ist der Mühlenstein, mit dem die Idee in dem diplomatischen
Tintenfaß hat ersäuft werben sollen; ja wol, sie ist poetisch, weil sie die tief¬
sten Saiten in der Brust der Völker anschlägt, wie hätte sie sonst Jahrhun¬
derte hindurch leben können! aber sie ist zugleich historisch, sie war schon
ausgeführt, man hat ihr nachgestrebt, sie nie aus den Augen verloren; von
anderen nationalen Einheitsgedanken, dem panslavistischen, dem deutschen, dem
iberischen, dem italienischen läßt sich ein solches unausgesetztes nachstreben
nicht behaupten. „Die Geschichte hat," erklärt die Note, „der Idee nie einen
bestimmteren Charakter anzuweisen vermocht, und von der Unmöglichkeit ihrer
Praktischen Verwirklichung hätte sie für immer verschwinden müssen." Ja, un¬
leugbar wäre es für v. Scheel glücklicher gewesen, wenn sie verschwunden, ehe
er königlich dänischer Minister des Auswärtigen geworden; die Gelegenheit
seine Ignoranz aufzudecken hätte er dann vermieden, aber man kann Ideen
nicht so leicht verschwinden machen, wie Marionettenpuppen, wenn sie unbe¬
quem sind; und obendrein ist jene Rede eine abgeschmackte; jedes Kind weiß
ja, daß während 130 Jahre etwas bestanden, das kalmarische Union hieß, die
an keinen anderen Unmöglichkeiten strandete, als an deutschen Wahlkönigen
und einem eigenmächtigen und eigennützigen Adel, wogegen der derzeit allein
aufgeklärte Stand der Geistlichkeit treu der Union zur Seite stand und sie
wahrscheinlich erhalten hätte, wenn nicht Christians II. Henkerbeil ihr das
Haupt abgeschlagen. Abgeschmackt ist es, daß v. Scheel klüger sein will in
der Politik als die ersten Staatsmänner Griffenseld und Bernstorff, kundiger
in der Geschichte als Holberg und Geijer, daß er den grundprosaischen
Friedrich VI. und den doch ziemlich „praktischen" Napoleon I. zu Poetischen
Schwärmern macht. Und doch wird diese Schwärmerei gefährlich genannt,
also die bestehende Ordnung ist entweder ein Kartenhaus, das ein luftiges
Phantasiegebilde wegblasen kann, oder das Gebilde muß Fleisch und Blut
unter seiner Nebelkappe verbergen. Was die beiden „blühenden Dynastien^
betrifft, so ist der Horizont unseres Vaterlandes so bewölkt, daß man sich wol


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/179>, abgerufen am 28.07.2024.