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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Mittel nicht besitzen, so ist dies ihnen zustehende Recht illusorisch. Die kirch¬
liche Gemeinde der Laien hat durchaus keine Vertretung, allein der Priester¬
stand entscheidet alle religiösen und kirchlichen Fragen und zwar wesentlich
nach politischen Rücksichten. Nur den vom König sanctionirten Beschlüssen
des Reichstages, bei denen jedoch der Priesterstand mitwirkt, hat die Geist¬
lichkeit sich zu fügen.

Ueber das Volk übt die Geistlichkeit eine große Macht. Jedes Indivi¬
duum, das im lutherischen Glauben geboren ist, muß in diesem Glauben er¬
zogen und unterrichtet werden. Abtrünnigkeit wird mit Landesverweisung
bestraft. Wer von lutherischen Eltern stammt und an den Vortheilen der bür¬
gerlichen Gesellschaft in Schweden theilnehmen will, muß das Glaubensbekennt¬
niß der Staatskirche abgelegt haben und seinen kirchlichen Pflichten Genüge
leisten. Wer eine Pfarre verläßt, um in einer andern sich niederzulassen, muß
das acht Tage zuvor dem Ortspfarrer anzeigen, damit derselbe den Abziehen¬
den in Bezug aus sein Glaubensbekenntniß prüfe und ihm ein Zeugniß aus¬
stelle, auf Grund dessen er zur Niederlassung in einem andern Psarrsprengel
Zugelassen wird. Dies Zeugniß muß enthalten, daß der Abreisende im lau¬
fenden Jahre das Abendmahl genossen hat, sonst darf er nach dem Gesetz
nicht den Namen eines Christen führen und setzt steh der Ercommunication und
dem Anathema der Kirche aus. Wer nicht zum Abendmahl gegangen ist, kann kein
Handwerk ober Handelsgeschäft betreiben, kein Staatsamt bekleiden, kann steh
nicht verheirathen. Noch bis vor kurzer Zeit war es den Lutheranern bei
Strafe verboten, dem Gottesdienst einer andern Kirche beizuwohnen. Wer
in Schweden nicht zur Kirche gehört, gehört auch nicht zur
Gesellschaft.

Wie im Leben, so übt auch im Glauben die Kirche eine engherzige Herr¬
schaft. Der Prediger und der Religionslehrer darf nur den Inhalt der sym¬
bolischen Bücher in populärer Form wiedergeben. In der heiligen Schrift
darf er nur die festgestellten Symbole wiederfinden. Trägt ein Laie einem
Geistlichen seine Zweifel vor, so ist die Antwort des Priesters: "Das Christen¬
thum verlangt Glauben. Prüfen und urtheilen ist ein Act der Empörung.
Glaube, wenn du nicht den Weg des Verderbens gehen willst." Statt Sitt¬
lichkeit zu predigen, statt das Gewissen der Menschen zu erwecken und sie zu
einem sittlichen Leben zu erziehen, beschäftigt sich die lutherische Kirche Schwe¬
dens vorzugsweise mit der Dogmatik. Sie erschreckt die Gemüther durch die
Furcht vor dem jüngsten Gericht und vor den Martern der Hölle. Der Ju¬
gend gibt sie nicht das-Evangelium, sondern den "großen Katechismus" in.
die Hand, ein Buch voll dogmatischer Dunkelheit, in welchem die Religions¬
wahrheiten Mysterien bleiben. Eine Commission, die einen neuen Katechismus
ausarbeiten sollte, hat dem alten einen noch dogmatischeren Charakter gegeben.


Mittel nicht besitzen, so ist dies ihnen zustehende Recht illusorisch. Die kirch¬
liche Gemeinde der Laien hat durchaus keine Vertretung, allein der Priester¬
stand entscheidet alle religiösen und kirchlichen Fragen und zwar wesentlich
nach politischen Rücksichten. Nur den vom König sanctionirten Beschlüssen
des Reichstages, bei denen jedoch der Priesterstand mitwirkt, hat die Geist¬
lichkeit sich zu fügen.

Ueber das Volk übt die Geistlichkeit eine große Macht. Jedes Indivi¬
duum, das im lutherischen Glauben geboren ist, muß in diesem Glauben er¬
zogen und unterrichtet werden. Abtrünnigkeit wird mit Landesverweisung
bestraft. Wer von lutherischen Eltern stammt und an den Vortheilen der bür¬
gerlichen Gesellschaft in Schweden theilnehmen will, muß das Glaubensbekennt¬
niß der Staatskirche abgelegt haben und seinen kirchlichen Pflichten Genüge
leisten. Wer eine Pfarre verläßt, um in einer andern sich niederzulassen, muß
das acht Tage zuvor dem Ortspfarrer anzeigen, damit derselbe den Abziehen¬
den in Bezug aus sein Glaubensbekenntniß prüfe und ihm ein Zeugniß aus¬
stelle, auf Grund dessen er zur Niederlassung in einem andern Psarrsprengel
Zugelassen wird. Dies Zeugniß muß enthalten, daß der Abreisende im lau¬
fenden Jahre das Abendmahl genossen hat, sonst darf er nach dem Gesetz
nicht den Namen eines Christen führen und setzt steh der Ercommunication und
dem Anathema der Kirche aus. Wer nicht zum Abendmahl gegangen ist, kann kein
Handwerk ober Handelsgeschäft betreiben, kein Staatsamt bekleiden, kann steh
nicht verheirathen. Noch bis vor kurzer Zeit war es den Lutheranern bei
Strafe verboten, dem Gottesdienst einer andern Kirche beizuwohnen. Wer
in Schweden nicht zur Kirche gehört, gehört auch nicht zur
Gesellschaft.

Wie im Leben, so übt auch im Glauben die Kirche eine engherzige Herr¬
schaft. Der Prediger und der Religionslehrer darf nur den Inhalt der sym¬
bolischen Bücher in populärer Form wiedergeben. In der heiligen Schrift
darf er nur die festgestellten Symbole wiederfinden. Trägt ein Laie einem
Geistlichen seine Zweifel vor, so ist die Antwort des Priesters: „Das Christen¬
thum verlangt Glauben. Prüfen und urtheilen ist ein Act der Empörung.
Glaube, wenn du nicht den Weg des Verderbens gehen willst." Statt Sitt¬
lichkeit zu predigen, statt das Gewissen der Menschen zu erwecken und sie zu
einem sittlichen Leben zu erziehen, beschäftigt sich die lutherische Kirche Schwe¬
dens vorzugsweise mit der Dogmatik. Sie erschreckt die Gemüther durch die
Furcht vor dem jüngsten Gericht und vor den Martern der Hölle. Der Ju¬
gend gibt sie nicht das-Evangelium, sondern den „großen Katechismus" in.
die Hand, ein Buch voll dogmatischer Dunkelheit, in welchem die Religions¬
wahrheiten Mysterien bleiben. Eine Commission, die einen neuen Katechismus
ausarbeiten sollte, hat dem alten einen noch dogmatischeren Charakter gegeben.


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[0159] Mittel nicht besitzen, so ist dies ihnen zustehende Recht illusorisch. Die kirch¬ liche Gemeinde der Laien hat durchaus keine Vertretung, allein der Priester¬ stand entscheidet alle religiösen und kirchlichen Fragen und zwar wesentlich nach politischen Rücksichten. Nur den vom König sanctionirten Beschlüssen des Reichstages, bei denen jedoch der Priesterstand mitwirkt, hat die Geist¬ lichkeit sich zu fügen. Ueber das Volk übt die Geistlichkeit eine große Macht. Jedes Indivi¬ duum, das im lutherischen Glauben geboren ist, muß in diesem Glauben er¬ zogen und unterrichtet werden. Abtrünnigkeit wird mit Landesverweisung bestraft. Wer von lutherischen Eltern stammt und an den Vortheilen der bür¬ gerlichen Gesellschaft in Schweden theilnehmen will, muß das Glaubensbekennt¬ niß der Staatskirche abgelegt haben und seinen kirchlichen Pflichten Genüge leisten. Wer eine Pfarre verläßt, um in einer andern sich niederzulassen, muß das acht Tage zuvor dem Ortspfarrer anzeigen, damit derselbe den Abziehen¬ den in Bezug aus sein Glaubensbekenntniß prüfe und ihm ein Zeugniß aus¬ stelle, auf Grund dessen er zur Niederlassung in einem andern Psarrsprengel Zugelassen wird. Dies Zeugniß muß enthalten, daß der Abreisende im lau¬ fenden Jahre das Abendmahl genossen hat, sonst darf er nach dem Gesetz nicht den Namen eines Christen führen und setzt steh der Ercommunication und dem Anathema der Kirche aus. Wer nicht zum Abendmahl gegangen ist, kann kein Handwerk ober Handelsgeschäft betreiben, kein Staatsamt bekleiden, kann steh nicht verheirathen. Noch bis vor kurzer Zeit war es den Lutheranern bei Strafe verboten, dem Gottesdienst einer andern Kirche beizuwohnen. Wer in Schweden nicht zur Kirche gehört, gehört auch nicht zur Gesellschaft. Wie im Leben, so übt auch im Glauben die Kirche eine engherzige Herr¬ schaft. Der Prediger und der Religionslehrer darf nur den Inhalt der sym¬ bolischen Bücher in populärer Form wiedergeben. In der heiligen Schrift darf er nur die festgestellten Symbole wiederfinden. Trägt ein Laie einem Geistlichen seine Zweifel vor, so ist die Antwort des Priesters: „Das Christen¬ thum verlangt Glauben. Prüfen und urtheilen ist ein Act der Empörung. Glaube, wenn du nicht den Weg des Verderbens gehen willst." Statt Sitt¬ lichkeit zu predigen, statt das Gewissen der Menschen zu erwecken und sie zu einem sittlichen Leben zu erziehen, beschäftigt sich die lutherische Kirche Schwe¬ dens vorzugsweise mit der Dogmatik. Sie erschreckt die Gemüther durch die Furcht vor dem jüngsten Gericht und vor den Martern der Hölle. Der Ju¬ gend gibt sie nicht das-Evangelium, sondern den „großen Katechismus" in. die Hand, ein Buch voll dogmatischer Dunkelheit, in welchem die Religions¬ wahrheiten Mysterien bleiben. Eine Commission, die einen neuen Katechismus ausarbeiten sollte, hat dem alten einen noch dogmatischeren Charakter gegeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/159>, abgerufen am 28.07.2024.