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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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machten, daß nicht alles praktisch zu verwirklichen sei, was sich reimen ließe.
Aber wenn man der Lyrik die Verstimmung nachsieht, so kann daS den Men¬
schen und Bürger nicht rechtfertigen, und wir sind überzeugt, daß Prutz sich
von dieser Verstimmung wieder aufraffen wird. Wir Deutschen haben nicht
das Temperament unserer Nachbarn jenseit des Rheins und können uns also
auch nicht den Illusionen hingeben, die dort so mächtig sind. Die Franzosen
fügen sich jedem starken Despotismus, in der festen ^Ueberzeugung, daß, wenn
es einmal zu arg wird, der Löwe des Volks in einem plötzlichen Wuthanfall
seine Ketten zerreißt. Hat er das gethan und seine Wärter zerrissen, so laß!
er sich geduldig unter ein neues Joch spannen, um das alte Spiel immer von
neuem wieder zu beginnen. Diese Methode läßt sich im Allgemeinen nicht
empfehlen, und am wenigsten paßt sie sür uns Deutsche, denn die Franzosen
haben in Zeiten der Aufregung und Krisis nur einen Willen. Wenn man
dagegen von den Deutschen in Friedenszeiten sagt, daß immer zehn Indivi¬
duen elf Ansichten haben, so wirb dieses Verhältniß in Zeiten der Aufregung
noch viel bedenklicher. Die Franzosen haben den Jnstinct der Autorität, wir
haben den edlen Jnstinct der Freiheit, aber um die Auswüchse dieses edle"
Instincts zu beschneiden, bedarf es einer fortgehenden, jeden Augenblick fühl¬
baren Zucht, einer Zucht, wie sie uns in den großen politischen Parteien
geboten ist. Der Einzelne muß lernen, seine persönlichen Vorurtheile und
Launen den Interessen des Ganzen aufzuopfern, und er hat es zum Theil
bereits gelernt. Poetisch ist die jetzige Lage wahrhaftig nicht, und weder die
Debatten über das Ehescheidungsgesetz, noch die über die Gebäudesteuer lassen
sich zu einem lyrischen Gedicht abrunden. Aber wir sind doch weiter gekommen,
als im Jahr -I8tÄ, denn jetzt sind wir Männer, und damals waren wir halbe
Knaben. Poetischer ist die Traumwelt, in der daS junge Gemüth keine Schran¬
ken findet; wenn man älter wird, sieht man ein, daß man Tag für Tag den
Pflug und die Egge anwenden muß, um dem widerstrebenden Erdreich eine
dauernde Frucht abzugewinnen. Aber das ist kein Grund zur Mutlosigkeit.
Auch in der Politik fruchtet nur die bedingte, in bestimmten Schranken sich
bewegende Arbeit; auch hier gilt der alte schöne Fluch, der dem Menschen¬
geschlecht verkündet ist, es solle im Schweiß des Angesichts sein Brot essen.
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machten, daß nicht alles praktisch zu verwirklichen sei, was sich reimen ließe.
Aber wenn man der Lyrik die Verstimmung nachsieht, so kann daS den Men¬
schen und Bürger nicht rechtfertigen, und wir sind überzeugt, daß Prutz sich
von dieser Verstimmung wieder aufraffen wird. Wir Deutschen haben nicht
das Temperament unserer Nachbarn jenseit des Rheins und können uns also
auch nicht den Illusionen hingeben, die dort so mächtig sind. Die Franzosen
fügen sich jedem starken Despotismus, in der festen ^Ueberzeugung, daß, wenn
es einmal zu arg wird, der Löwe des Volks in einem plötzlichen Wuthanfall
seine Ketten zerreißt. Hat er das gethan und seine Wärter zerrissen, so laß!
er sich geduldig unter ein neues Joch spannen, um das alte Spiel immer von
neuem wieder zu beginnen. Diese Methode läßt sich im Allgemeinen nicht
empfehlen, und am wenigsten paßt sie sür uns Deutsche, denn die Franzosen
haben in Zeiten der Aufregung und Krisis nur einen Willen. Wenn man
dagegen von den Deutschen in Friedenszeiten sagt, daß immer zehn Indivi¬
duen elf Ansichten haben, so wirb dieses Verhältniß in Zeiten der Aufregung
noch viel bedenklicher. Die Franzosen haben den Jnstinct der Autorität, wir
haben den edlen Jnstinct der Freiheit, aber um die Auswüchse dieses edle»
Instincts zu beschneiden, bedarf es einer fortgehenden, jeden Augenblick fühl¬
baren Zucht, einer Zucht, wie sie uns in den großen politischen Parteien
geboten ist. Der Einzelne muß lernen, seine persönlichen Vorurtheile und
Launen den Interessen des Ganzen aufzuopfern, und er hat es zum Theil
bereits gelernt. Poetisch ist die jetzige Lage wahrhaftig nicht, und weder die
Debatten über das Ehescheidungsgesetz, noch die über die Gebäudesteuer lassen
sich zu einem lyrischen Gedicht abrunden. Aber wir sind doch weiter gekommen,
als im Jahr -I8tÄ, denn jetzt sind wir Männer, und damals waren wir halbe
Knaben. Poetischer ist die Traumwelt, in der daS junge Gemüth keine Schran¬
ken findet; wenn man älter wird, sieht man ein, daß man Tag für Tag den
Pflug und die Egge anwenden muß, um dem widerstrebenden Erdreich eine
dauernde Frucht abzugewinnen. Aber das ist kein Grund zur Mutlosigkeit.
Auch in der Politik fruchtet nur die bedingte, in bestimmten Schranken sich
bewegende Arbeit; auch hier gilt der alte schöne Fluch, der dem Menschen¬
geschlecht verkündet ist, es solle im Schweiß des Angesichts sein Brot essen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/14>, abgerufen am 01.09.2024.