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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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ter, als dem Gelehrten und Forscher gilt, denn den Werth und die Halt¬
barkeit seiner eigentlichen Forschungen zu prüfen, sind um so Wenigere im
Stande, da er die Methode derselben verschwiegen hat. Daß der Geschicht¬
schreiber ein Künstler sein muß, wird heute kaum mehr bestritten werden; ja
die künstlerische Seite ist bei ihm fast ebenso wichtig, wie bei dem Dichter.
Wie er zu der Kenntniß der Thatsachen kommt, die er seinen Lesern mittheilt,
steht auf einem andern Felde; aber das, was er weiß, seinen Lesern so zu
erzählen, daß es ihnen verständlich wird, und daß sie Interesse daran finden,
ihnen die Zustände gegenwärtig zu machen, die Charaktere in das richtige
Licht zu setzen, das ist Sache der Kunst. Daß Mommsen ein großer Künstler
ist, hat das Publicum richtig erkannt; weniger hat es sich damit beschäftigt,
welche Schwierigkeiten in der Kunstform liegen, die er gewählt hat.

Für den Chronisten, der die Geschichte seiner Zeit erzählt, ist die Form
vorgezeichnet; je mehr er sich selbst hinter den Ereignissen zurücktreten läßt, je
objectiver er darstellt, desto günstiger wird der Eindruck sein, den er hervorruft.
Für so manchen, der sich bei einem Gegenstande nur eine bestimmte Kunstform
denken kaun, steht es fest, daß auch der Geschichtschreiber der Vergangenheit die
Verpflichtung habe, ungefähr in derselben Weise zu referiren, wie ein epischer
Dichter. Wäre daS wahr, so verdiente Mommsens Werk den größten Tadel,
denn man kann sich nicht leicht eine subjectivere Form vorstellen. Aber die
Forderung beruht auf einem Mißverständniß. Die Aufgabe des modernen
Geschichtschreibers, der die Zeit des Herodot oder Thucydides, des Livius oder
Sallust behandelt, fällt nicht mit der Aufgabe jener alten Historiker zusammen;
seine Auswahl des Stoffs muß eine andere sein, nicht minder seine Behandlung.
Was bei jenen Alten naiv war, würde bei dem modernen Geschichtschreiber
reflectirt sein, denn er selbst steht zu den Thatsachen und zu den sittlichen Ideen
und Zuständen, welche dieselben voraussetzen, in einem ganz andern Verhält¬
niß, als seine Quellen, und er muß bei seinem Publicum einen noch größern
Abstand wahrnehmen. Durch die Lectüre des Livius oder Cäsar lernen wir
wenigstens unmittelbar die Eigenthümlichkeit der Zustände nicht kennen; wir
lassen uns durch die Verwandtschaft deS Geschichtschreibers mit seinem Gegen¬
stand täuschen und nehmen an, daß er uns ebenso nahe steht, als jene. Der
moderne Geschichtschreiber hat die Aufgabe, uns sowol den Contrast der Zu¬
stände, auf die er sich bezieht, gegen die unsrigen fühlbar zu machen, als die
Verwandtschaft hervorzuheben, die in allen menschlichen Dingen besteht. Momm¬
sen ist dies in einem Grade gelungen, wie vielleicht keinem andern Geschicht¬
schreiber, theils wegen der außerordentlichen Gelehrsamkeit, die ihm aus dem
gesammten Gebiet der Weltgeschichte zahllose Analogien zur Disposition stellt,
und dem Scharfsinn, der schnell den charakteristischen Punkt herausfindet, theils
aber auch wegen der nervösen Empfänglichkeit seiner Natur, in der die Gegen-


ter, als dem Gelehrten und Forscher gilt, denn den Werth und die Halt¬
barkeit seiner eigentlichen Forschungen zu prüfen, sind um so Wenigere im
Stande, da er die Methode derselben verschwiegen hat. Daß der Geschicht¬
schreiber ein Künstler sein muß, wird heute kaum mehr bestritten werden; ja
die künstlerische Seite ist bei ihm fast ebenso wichtig, wie bei dem Dichter.
Wie er zu der Kenntniß der Thatsachen kommt, die er seinen Lesern mittheilt,
steht auf einem andern Felde; aber das, was er weiß, seinen Lesern so zu
erzählen, daß es ihnen verständlich wird, und daß sie Interesse daran finden,
ihnen die Zustände gegenwärtig zu machen, die Charaktere in das richtige
Licht zu setzen, das ist Sache der Kunst. Daß Mommsen ein großer Künstler
ist, hat das Publicum richtig erkannt; weniger hat es sich damit beschäftigt,
welche Schwierigkeiten in der Kunstform liegen, die er gewählt hat.

Für den Chronisten, der die Geschichte seiner Zeit erzählt, ist die Form
vorgezeichnet; je mehr er sich selbst hinter den Ereignissen zurücktreten läßt, je
objectiver er darstellt, desto günstiger wird der Eindruck sein, den er hervorruft.
Für so manchen, der sich bei einem Gegenstande nur eine bestimmte Kunstform
denken kaun, steht es fest, daß auch der Geschichtschreiber der Vergangenheit die
Verpflichtung habe, ungefähr in derselben Weise zu referiren, wie ein epischer
Dichter. Wäre daS wahr, so verdiente Mommsens Werk den größten Tadel,
denn man kann sich nicht leicht eine subjectivere Form vorstellen. Aber die
Forderung beruht auf einem Mißverständniß. Die Aufgabe des modernen
Geschichtschreibers, der die Zeit des Herodot oder Thucydides, des Livius oder
Sallust behandelt, fällt nicht mit der Aufgabe jener alten Historiker zusammen;
seine Auswahl des Stoffs muß eine andere sein, nicht minder seine Behandlung.
Was bei jenen Alten naiv war, würde bei dem modernen Geschichtschreiber
reflectirt sein, denn er selbst steht zu den Thatsachen und zu den sittlichen Ideen
und Zuständen, welche dieselben voraussetzen, in einem ganz andern Verhält¬
niß, als seine Quellen, und er muß bei seinem Publicum einen noch größern
Abstand wahrnehmen. Durch die Lectüre des Livius oder Cäsar lernen wir
wenigstens unmittelbar die Eigenthümlichkeit der Zustände nicht kennen; wir
lassen uns durch die Verwandtschaft deS Geschichtschreibers mit seinem Gegen¬
stand täuschen und nehmen an, daß er uns ebenso nahe steht, als jene. Der
moderne Geschichtschreiber hat die Aufgabe, uns sowol den Contrast der Zu¬
stände, auf die er sich bezieht, gegen die unsrigen fühlbar zu machen, als die
Verwandtschaft hervorzuheben, die in allen menschlichen Dingen besteht. Momm¬
sen ist dies in einem Grade gelungen, wie vielleicht keinem andern Geschicht¬
schreiber, theils wegen der außerordentlichen Gelehrsamkeit, die ihm aus dem
gesammten Gebiet der Weltgeschichte zahllose Analogien zur Disposition stellt,
und dem Scharfsinn, der schnell den charakteristischen Punkt herausfindet, theils
aber auch wegen der nervösen Empfänglichkeit seiner Natur, in der die Gegen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/500>, abgerufen am 25.08.2024.