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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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wird dies unmöglich bei dem gegenwärtigen Zustand unserer gebildeten Schrift¬
sprache, bei der Fülle gebildeter Melodien, welche in daS Ohr des Volkes
dringen, bei der Abhängigkeit jedes Einzelnen von 'der Denk- und Em-
pfindungsweise unsers modernen Lebens. Nur wer Herrschaft gewonnen hat
über den massenhaften Bildungsstoff der Gegenwart, vermag jetzt als Dichter
auf sein Volk zu wirken, und wirklich volksthümliche Gedichte zu schaffen,
wird in der Regel nur höchster Bildung und sichrer Beherrschung des Lebens
gelingen.

Es ist interessant, von diesem Gesichtspunkt zu beobachten, was in neuester
Zeit etwa von Hirten, Jägern, Bauern, Bürgern, Schullehrern und von den
sogenannten Localdichtern geschaffen wurde. Die neuen Gedichte solcher, welche
in den einfachsten Verhältnissen leben, haben in der Regel nicht die Rhythmen,
Sprache und Ausdrucksweise der alten Volkslieder, sondern sie reproduciren
unwillkürlich Gesangbuchsverse, oder Theaterlieder, welche volksbeliebt geworden
sind. Die Poesie der Localdichter aber, wie nahe sie der Empfindungsweise
der großen Menge stehen mögen, geht in den aufgefahrenen Gleisen früherer
Kunstpoesie, in Schiller ober im östlichen Deutschland gar in den schlesischen
Dichterschulen fort.

Und doch wie groß die Verwüstungen sind, welche durch das moderne
Leben in dem noch lebendigen Schatz alter Volkslieder angerichtet wurden,
die Menge dessen, was bis auf unsere Zeit erhalten blieb, ist noch groß;
aber das vom Volk noch Gesungene ist großentheils in traurigem Zustande.
In den meisten Landschaften Deutschlands sind nicht mehr die besonders be¬
fähigten und intelligenten Landleute und Handwerker die Bewahrer dieses
überkommenen Gesanges, und die aufstrebende Jugend singt mit größeren Eifer
die modernen Neuigkeiten, welche ihr durch das Theater, Schullehrer und
wandernde Musiker ins Ohr kommen. In dem Munde der Kinder und alten
Mütterchen zerbröckeln aber die vorhandenen Texte wie die Melodien mit
großer Schnelligkeit. Außerdem sind die meisten Gedichte, zumal die in Balladen¬
form den Sängern nicht mehr ganz verständlich. Das Charakteristische
grade- der ältesten Volkslieder ist, den Stoff nicht in allen den Punkten,
welche wir für wesentlich halten, ausführlich zu erzählen. In der Regel wird
die Situation ober das Ereigniß, welches dem Liede zu Grunve liegt, als
bekannt vorausgesetzt. Scharf und mit großer poetischer Kraft verklärt
der.Sänger einzelne Momente durch lebhafte Empfindung oder durch ein
schönes poetisches Bild. Kurz und sprunghaft ist Stil und Erzählung,
ganz ähnlich wie in den uralten epischen Gedichten aus der Zeit der Alli¬
teration. So geschieht es nur zu leicht, daß einzelne Zeilen oder Verse
verloren gehen, und mit ihnen der Sinn des ganzen Gedichts. Es bleiben
dann um einer holden Melodie willen wol einzelne Strophen im Gedächtniß


wird dies unmöglich bei dem gegenwärtigen Zustand unserer gebildeten Schrift¬
sprache, bei der Fülle gebildeter Melodien, welche in daS Ohr des Volkes
dringen, bei der Abhängigkeit jedes Einzelnen von 'der Denk- und Em-
pfindungsweise unsers modernen Lebens. Nur wer Herrschaft gewonnen hat
über den massenhaften Bildungsstoff der Gegenwart, vermag jetzt als Dichter
auf sein Volk zu wirken, und wirklich volksthümliche Gedichte zu schaffen,
wird in der Regel nur höchster Bildung und sichrer Beherrschung des Lebens
gelingen.

Es ist interessant, von diesem Gesichtspunkt zu beobachten, was in neuester
Zeit etwa von Hirten, Jägern, Bauern, Bürgern, Schullehrern und von den
sogenannten Localdichtern geschaffen wurde. Die neuen Gedichte solcher, welche
in den einfachsten Verhältnissen leben, haben in der Regel nicht die Rhythmen,
Sprache und Ausdrucksweise der alten Volkslieder, sondern sie reproduciren
unwillkürlich Gesangbuchsverse, oder Theaterlieder, welche volksbeliebt geworden
sind. Die Poesie der Localdichter aber, wie nahe sie der Empfindungsweise
der großen Menge stehen mögen, geht in den aufgefahrenen Gleisen früherer
Kunstpoesie, in Schiller ober im östlichen Deutschland gar in den schlesischen
Dichterschulen fort.

Und doch wie groß die Verwüstungen sind, welche durch das moderne
Leben in dem noch lebendigen Schatz alter Volkslieder angerichtet wurden,
die Menge dessen, was bis auf unsere Zeit erhalten blieb, ist noch groß;
aber das vom Volk noch Gesungene ist großentheils in traurigem Zustande.
In den meisten Landschaften Deutschlands sind nicht mehr die besonders be¬
fähigten und intelligenten Landleute und Handwerker die Bewahrer dieses
überkommenen Gesanges, und die aufstrebende Jugend singt mit größeren Eifer
die modernen Neuigkeiten, welche ihr durch das Theater, Schullehrer und
wandernde Musiker ins Ohr kommen. In dem Munde der Kinder und alten
Mütterchen zerbröckeln aber die vorhandenen Texte wie die Melodien mit
großer Schnelligkeit. Außerdem sind die meisten Gedichte, zumal die in Balladen¬
form den Sängern nicht mehr ganz verständlich. Das Charakteristische
grade- der ältesten Volkslieder ist, den Stoff nicht in allen den Punkten,
welche wir für wesentlich halten, ausführlich zu erzählen. In der Regel wird
die Situation ober das Ereigniß, welches dem Liede zu Grunve liegt, als
bekannt vorausgesetzt. Scharf und mit großer poetischer Kraft verklärt
der.Sänger einzelne Momente durch lebhafte Empfindung oder durch ein
schönes poetisches Bild. Kurz und sprunghaft ist Stil und Erzählung,
ganz ähnlich wie in den uralten epischen Gedichten aus der Zeit der Alli¬
teration. So geschieht es nur zu leicht, daß einzelne Zeilen oder Verse
verloren gehen, und mit ihnen der Sinn des ganzen Gedichts. Es bleiben
dann um einer holden Melodie willen wol einzelne Strophen im Gedächtniß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/455>, abgerufen am 23.07.2024.