Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.Unheil allein die volle Schuld des allmäligen Absterbens der Volkspoesie zu¬ Unheil allein die volle Schuld des allmäligen Absterbens der Volkspoesie zu¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0454" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103587"/> <p xml:id="ID_1569" prev="#ID_1568" next="#ID_1570"> Unheil allein die volle Schuld des allmäligen Absterbens der Volkspoesie zu¬<lb/> zuschreiben. Denn bei den Stammgenossen der Deutschen ist Aehnliches ge¬<lb/> schehen, und wenn die Kriege, welche seit der Schlacht am weißen Berge<lb/> bis zum westphälischen Frieden in Deutschland tobten, einst einen feinen<lb/> Erzähler finden, welcher beweist, daß alles so kommen mußte, und daß schlie߬<lb/> lich alles zum Heile war, so wird er nicht verfehlen, auch das nachzuweisen,<lb/> daß die ganze bequeme Versgeläufigkeit der Deutschen seit dem Is. Jahr¬<lb/> hundert mit schöner Kunst wenig zu thun hatte und in ihrer rohen und will¬<lb/> kürlichen Behandlung des Verses und der Sprache absterben mußte, um eine<lb/> neue, schönere und kunstvollere Poesie möglich zu machen. Aber eine solche<lb/> kühle und naturwissenschaftliche Betrachtung des hohen lebenden Organismus,<lb/> dem auch wir angehören, vermag nicht darüber zu trösten, daß die Verwüstung<lb/> der Volksseele so schnell und so kläglich geworden ist. Die Freude des Volks an sei¬<lb/> nen politischen Gedichten war ein Beweis, welch lebhaften Antheil das gesammte<lb/> Volk an den politischen Ereignissen seiner Zeit nahm, und das schnelle<lb/> Versinken und Absterben der poetischen Kraft im Volke hat auch die neue<lb/> Poesie der Gebildeten von Opitz bis Gottsched zurückgehalten und verkümmern<lb/> lassen. Mit einer merkwürdigen Willkür mußten diese versuchen, die verwilderte<lb/> Sprache von neuem sür den Ausdruck ihrer Stimmungen zuzurichten; sie<lb/> suchten neue prosodische Regeln, neue Rhythmen, Bilder, Stoffe, und sie zogen<lb/> solche mühsam und pedantisch aus der Ferne des Alterthums und andrer Nati¬<lb/> onen herbei, ohne zu erreichen, was sie ängstlich suchten, innere Freiheit, Adel<lb/> und Schönheit. Bis nach langen hundert Jahren der Genius von Goethe mit<lb/> souveräner Leichtigkeit die verklungene deutsche Sprache und Darstellungsweise des<lb/> Götz, der Volksbücher und Volkslieder wieder lebendig machte und in bezaubern¬<lb/> der Weise zu den Maßen der Antike und zur Empfindungsweise der neuen Zeit<lb/> gesellte. Mit ihm begann eine neue großartige Blüte der gebildeten Lyrik, durch<lb/> sie wurden die Volksklänge alter Zeit noch einmal lebendig gemacht und mit<lb/> modernem Geiste versetzt, und wieder wurden sie ein Moment unserer Bildung.<lb/> Auch das ist ein Zeichen der Herrschaft, welche die «moderne Poesie über das<lb/> Herz des deutschen Volkes erworben hat, daß durch die Romantiker und den<lb/> unartigen Heine das Volk einen guten Theil seiner alten Weisen und Klänge<lb/> aus dem Munde der am meisten aristokratischen Dichter von neuem empfing.<lb/> Aber das Volk erhielt sich empfangend und aufnehmend. Noch sind die Deut¬<lb/> schen nächst einigen Slawenstämmen vielleicht das gesanglustigste Volk Europas;<lb/> aber je allgemeiner das Bedürfniß nach Bildung wird und je schneller der<lb/> große Proceß vor sich geht, durch welchen das neugefundene Wahre und<lb/> Schöne alle Classen des Volkes durchdringt, desto, weniger wird eS den<lb/> untern Schichten des Volkes, die immer vorzugsweise Träger volksthümlicher<lb/> Gesänge sind, möglich, mit Sicherheit und Selbstgefühl Neues zu dichten. ES</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0454]
Unheil allein die volle Schuld des allmäligen Absterbens der Volkspoesie zu¬
zuschreiben. Denn bei den Stammgenossen der Deutschen ist Aehnliches ge¬
schehen, und wenn die Kriege, welche seit der Schlacht am weißen Berge
bis zum westphälischen Frieden in Deutschland tobten, einst einen feinen
Erzähler finden, welcher beweist, daß alles so kommen mußte, und daß schlie߬
lich alles zum Heile war, so wird er nicht verfehlen, auch das nachzuweisen,
daß die ganze bequeme Versgeläufigkeit der Deutschen seit dem Is. Jahr¬
hundert mit schöner Kunst wenig zu thun hatte und in ihrer rohen und will¬
kürlichen Behandlung des Verses und der Sprache absterben mußte, um eine
neue, schönere und kunstvollere Poesie möglich zu machen. Aber eine solche
kühle und naturwissenschaftliche Betrachtung des hohen lebenden Organismus,
dem auch wir angehören, vermag nicht darüber zu trösten, daß die Verwüstung
der Volksseele so schnell und so kläglich geworden ist. Die Freude des Volks an sei¬
nen politischen Gedichten war ein Beweis, welch lebhaften Antheil das gesammte
Volk an den politischen Ereignissen seiner Zeit nahm, und das schnelle
Versinken und Absterben der poetischen Kraft im Volke hat auch die neue
Poesie der Gebildeten von Opitz bis Gottsched zurückgehalten und verkümmern
lassen. Mit einer merkwürdigen Willkür mußten diese versuchen, die verwilderte
Sprache von neuem sür den Ausdruck ihrer Stimmungen zuzurichten; sie
suchten neue prosodische Regeln, neue Rhythmen, Bilder, Stoffe, und sie zogen
solche mühsam und pedantisch aus der Ferne des Alterthums und andrer Nati¬
onen herbei, ohne zu erreichen, was sie ängstlich suchten, innere Freiheit, Adel
und Schönheit. Bis nach langen hundert Jahren der Genius von Goethe mit
souveräner Leichtigkeit die verklungene deutsche Sprache und Darstellungsweise des
Götz, der Volksbücher und Volkslieder wieder lebendig machte und in bezaubern¬
der Weise zu den Maßen der Antike und zur Empfindungsweise der neuen Zeit
gesellte. Mit ihm begann eine neue großartige Blüte der gebildeten Lyrik, durch
sie wurden die Volksklänge alter Zeit noch einmal lebendig gemacht und mit
modernem Geiste versetzt, und wieder wurden sie ein Moment unserer Bildung.
Auch das ist ein Zeichen der Herrschaft, welche die «moderne Poesie über das
Herz des deutschen Volkes erworben hat, daß durch die Romantiker und den
unartigen Heine das Volk einen guten Theil seiner alten Weisen und Klänge
aus dem Munde der am meisten aristokratischen Dichter von neuem empfing.
Aber das Volk erhielt sich empfangend und aufnehmend. Noch sind die Deut¬
schen nächst einigen Slawenstämmen vielleicht das gesanglustigste Volk Europas;
aber je allgemeiner das Bedürfniß nach Bildung wird und je schneller der
große Proceß vor sich geht, durch welchen das neugefundene Wahre und
Schöne alle Classen des Volkes durchdringt, desto, weniger wird eS den
untern Schichten des Volkes, die immer vorzugsweise Träger volksthümlicher
Gesänge sind, möglich, mit Sicherheit und Selbstgefühl Neues zu dichten. ES
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