Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.nicht leicht jemand zur Ueberzeugung kommen, daß ein Bedürfniß vorhanden nicht leicht jemand zur Ueberzeugung kommen, daß ein Bedürfniß vorhanden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0440" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103573"/> <p xml:id="ID_1523" prev="#ID_1522" next="#ID_1524"> nicht leicht jemand zur Ueberzeugung kommen, daß ein Bedürfniß vorhanden<lb/> sei, Verfassungsveränderungen bei uns noch zu erleichtern. Die constitutionelle<lb/> Partei hielt es daher auch für überflüssig, in die Debatte über die projectirte<lb/> Aenderung des Art. 107 einzutreten, sondern motivirte ihre Ablehnung nur<lb/> durch eine kurze, aber energische Erklärung des Grafen Schwerin. Gegen die<lb/> Abänderung des Art. 76 sprach der Abg. Mathis mit großem Nachdruck und<lb/> beißender Schärfe. Diese Verhandlungen waren nur das Vorspiel zu wichtigeren<lb/> parlamentarischen Kämpfen. Viele bewegte Sitzungen hat das Haus der Ab¬<lb/> geordneten dem Ehescheidungsgesetz gewidmet, gewiß eine der wichtigsten Fragen,<lb/> welche die preußische Landesvertretung seit ihrem Bestehen zu erörtern berufen<lb/> war. Inhalt und Tendenz der Vorlage sind so viel besprochen und so all¬<lb/> gemein bekannt, daß wir uns auf die Beleuchtung der Pnrteistellungen<lb/> beschränken, die in Betreff ihrer völlig durcheinander gemischt waren. Die<lb/> constitutionelle Fraction ist durchaus dagegen; die bethmann - hollwegsche<lb/> (die noch immer den Namen ihres abwesenden Gründers trägt) gleichfalls mit<lb/> der unseres Wissens nach einzigen Ausnahme des Abg. Mathis, der, in diesem<lb/> Punkte von seinen politischen Freunden abweichend, den Regierungsentwurf<lb/> mit der Wärme einer tiefen Ueberzeugung vertheidigt und in verschiedenen<lb/> Punkten noch über ihn hinausgeht. Unter der Rechten findet der Entwurf<lb/> zahlreiche Gegner und selbst eine große Anzahl derer, die für ihn stimmen,<lb/> thut eS mit Widerstreben und mit Rücksicht auf die Regierung. Bei dieser<lb/> Beschaffenheit der Meinungen in den Parteien lag die Entscheidung in der<lb/> Hand der Katholiken, wir meinen in diesem Falle nicht die katholische Fraction,<lb/> sondern die katholischen Abgeordneten im Allgemeinen, die in dieser Frage, die<lb/> für sie eine streng cvnsesstonelle ist, fast alle zusammengingen und die mit ihren<lb/> 70—80 Stimmen unbedingt die Mehrheit für oder gegen die Vorlage werben<lb/> konnten. Gleich im Beginn der Discussion (in der Sitzung vom 23.) bean¬<lb/> tragte nun der Abg. Reichensperger im Namen seiner Glaubensgenossen über<lb/> die Vorlage vorher die Organe der katholischen und evangelischen Kirche zu<lb/> vernehmen, und erklärte, daß er und seine Freunde, auf dem Princip ihrer<lb/> Kirche fußend, zwar dafür wirken würden, derselben das Gesetz so nahe wie<lb/> möglich zu bringen, am Schlüsse aber doch dagegen stimmen würden, weil es<lb/> den katholischen Grundsätzen, nach welchen die Ehe Sacrament und unauf¬<lb/> löslich sei, nicht entspräche. Diese Ankündigung war für die Vertheidiger des<lb/> Gesetzes ebenso niederschlagend, als sie seinen Gegnern Aussichten eröffnete.<lb/> Um jenen Entschluß der Katholiken, ob sie demselben treu bleiben, ob sie sich,<lb/> wenigstens dazu verstehen würden, sich des Votums zu enthalten, oder ob sie<lb/> schließlich doch dem Gesetz ihre Stimmen geben würden, dreht sich das Haupt¬<lb/> interesse der ganzen Frage. Die Vertheidiger des Gesetzes, namentlich die<lb/> Herren von Gerlach und Wagener, haben weder Vorwürfe noch Bitten, noch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0440]
nicht leicht jemand zur Ueberzeugung kommen, daß ein Bedürfniß vorhanden
sei, Verfassungsveränderungen bei uns noch zu erleichtern. Die constitutionelle
Partei hielt es daher auch für überflüssig, in die Debatte über die projectirte
Aenderung des Art. 107 einzutreten, sondern motivirte ihre Ablehnung nur
durch eine kurze, aber energische Erklärung des Grafen Schwerin. Gegen die
Abänderung des Art. 76 sprach der Abg. Mathis mit großem Nachdruck und
beißender Schärfe. Diese Verhandlungen waren nur das Vorspiel zu wichtigeren
parlamentarischen Kämpfen. Viele bewegte Sitzungen hat das Haus der Ab¬
geordneten dem Ehescheidungsgesetz gewidmet, gewiß eine der wichtigsten Fragen,
welche die preußische Landesvertretung seit ihrem Bestehen zu erörtern berufen
war. Inhalt und Tendenz der Vorlage sind so viel besprochen und so all¬
gemein bekannt, daß wir uns auf die Beleuchtung der Pnrteistellungen
beschränken, die in Betreff ihrer völlig durcheinander gemischt waren. Die
constitutionelle Fraction ist durchaus dagegen; die bethmann - hollwegsche
(die noch immer den Namen ihres abwesenden Gründers trägt) gleichfalls mit
der unseres Wissens nach einzigen Ausnahme des Abg. Mathis, der, in diesem
Punkte von seinen politischen Freunden abweichend, den Regierungsentwurf
mit der Wärme einer tiefen Ueberzeugung vertheidigt und in verschiedenen
Punkten noch über ihn hinausgeht. Unter der Rechten findet der Entwurf
zahlreiche Gegner und selbst eine große Anzahl derer, die für ihn stimmen,
thut eS mit Widerstreben und mit Rücksicht auf die Regierung. Bei dieser
Beschaffenheit der Meinungen in den Parteien lag die Entscheidung in der
Hand der Katholiken, wir meinen in diesem Falle nicht die katholische Fraction,
sondern die katholischen Abgeordneten im Allgemeinen, die in dieser Frage, die
für sie eine streng cvnsesstonelle ist, fast alle zusammengingen und die mit ihren
70—80 Stimmen unbedingt die Mehrheit für oder gegen die Vorlage werben
konnten. Gleich im Beginn der Discussion (in der Sitzung vom 23.) bean¬
tragte nun der Abg. Reichensperger im Namen seiner Glaubensgenossen über
die Vorlage vorher die Organe der katholischen und evangelischen Kirche zu
vernehmen, und erklärte, daß er und seine Freunde, auf dem Princip ihrer
Kirche fußend, zwar dafür wirken würden, derselben das Gesetz so nahe wie
möglich zu bringen, am Schlüsse aber doch dagegen stimmen würden, weil es
den katholischen Grundsätzen, nach welchen die Ehe Sacrament und unauf¬
löslich sei, nicht entspräche. Diese Ankündigung war für die Vertheidiger des
Gesetzes ebenso niederschlagend, als sie seinen Gegnern Aussichten eröffnete.
Um jenen Entschluß der Katholiken, ob sie demselben treu bleiben, ob sie sich,
wenigstens dazu verstehen würden, sich des Votums zu enthalten, oder ob sie
schließlich doch dem Gesetz ihre Stimmen geben würden, dreht sich das Haupt¬
interesse der ganzen Frage. Die Vertheidiger des Gesetzes, namentlich die
Herren von Gerlach und Wagener, haben weder Vorwürfe noch Bitten, noch
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