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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Nischen Fürsten untereinander und es ist fast keiner unter ihnen, der Italien
nicht verleugnet und mit dessen Feinden ein Bündniß geschlossen hätte; eS
gründete sich auf das herzliche EinVerständniß der Fürsten und der Völker und
es ist wiederum fast keiner dieser Fürsten, den König von Sardinien aus¬
genommen, der nicht pures seine Unzuverlässtgkeit und Rückkehr zu den retro-
graden Ideen jeden Gedanken, das geringste Vertrauen in ihn zu setzen,
lächerlich gemacht hätte; es gründete sich auf die Eintracht der verschiedenen
Classen der Bevölkerung untereinander, aber Regierungen und Factionen
haben um die Wette diese Classen in eine Zwietracht und in einen Haß
gegeneinander gestürzt, der größer ist als je; mit Ausnahme einer kleinen
Zahl von Mitgliedern der niedern Geistlichkeit und einer noch kleineren Zahl
von Würdenträgern der Kirche, sind alle Geistliche der Gegenwart wieder die
Knechte des Jesuitismus, des Absolutismus und des stylus "Mo geworden,
und leben mit der übrigen weltlichen Bevölkerung in heftiger und fortwährender
Feindschaft. Diese weltliche Bevölkerung selbst hat der Faclionsgeist gewisser¬
maßen in Staub verwandelt. Die Adeligen hassen die Bürgerlichen und werden
von diesen wiederum beneidet; die Conservativen sind in Krieg mit den Demo¬
kraten; das Volk, welches die vornehmen Stände getäuscht haben, sieht viesc
scheel an und die Reichen gerathen schon bei dem Namen Socialisten in
Schrecken. Die Föderalisten richten auf Piemont ihre letzten und vergeblichen
Hoffnungen; die Radicalen und die Retrograden führen auf dem Boden des
armen Italiens einen verzweifelten Krieg. Die Länder Italiens endlich sind
untereinander nicht minder uneins: die Lombardei und Genua hegen mehr
oder minder Groll gegen Piemont; Sicilien kann Neapel nicht ausstehen und
Rom ist jedermann verhaßt geworden. -- Nach außen beruhte das Risorgimento
auf einem Princip, das nicht minder vernichtet ist, nämlich auf dem Einver-
ständniß der politischen Tendenzen Italiens mit denen von ganz Europa; vor
1848 erstrebten alle europäischen Völker, und mit ihnen Italien, einmüthig die
Eroberung oder die Befestigung der öffentlichen Freiheit. Was ist heute aus
dieser Bewegung geworden? -- Die Politik des Risorgimento, so viel Verdienst
sie ihrer Zeit auch haben mochte, hat sich daher erschöpft und ein neues System
ist nothwendig geworden, das mit den Bedürfnissen der Zeit mehr in Ein¬
klang steht.

Dieses neue System nun nennt Gioberti die bürgerliche Erneuerung
(Rinnovamento) Italiens. Das Risorgimento erstrebte eine allmälige Um¬
wandlung Italiens durch eine Reihe von Reformen, das Rinnovamento hat
einen mehr revolutionären Anstrich und Charakter (avrg piuttosto aspetto v
"Rauda al rivalmione). Das Risorgimento war eine rein italienische Be¬
wegung; das Rinnovamento dagegen soll in seinem Gange und seinen Resul¬
taten wesentlich eine europäische Bewegung sein; die Regeneration Italiens,


Nischen Fürsten untereinander und es ist fast keiner unter ihnen, der Italien
nicht verleugnet und mit dessen Feinden ein Bündniß geschlossen hätte; eS
gründete sich auf das herzliche EinVerständniß der Fürsten und der Völker und
es ist wiederum fast keiner dieser Fürsten, den König von Sardinien aus¬
genommen, der nicht pures seine Unzuverlässtgkeit und Rückkehr zu den retro-
graden Ideen jeden Gedanken, das geringste Vertrauen in ihn zu setzen,
lächerlich gemacht hätte; es gründete sich auf die Eintracht der verschiedenen
Classen der Bevölkerung untereinander, aber Regierungen und Factionen
haben um die Wette diese Classen in eine Zwietracht und in einen Haß
gegeneinander gestürzt, der größer ist als je; mit Ausnahme einer kleinen
Zahl von Mitgliedern der niedern Geistlichkeit und einer noch kleineren Zahl
von Würdenträgern der Kirche, sind alle Geistliche der Gegenwart wieder die
Knechte des Jesuitismus, des Absolutismus und des stylus «Mo geworden,
und leben mit der übrigen weltlichen Bevölkerung in heftiger und fortwährender
Feindschaft. Diese weltliche Bevölkerung selbst hat der Faclionsgeist gewisser¬
maßen in Staub verwandelt. Die Adeligen hassen die Bürgerlichen und werden
von diesen wiederum beneidet; die Conservativen sind in Krieg mit den Demo¬
kraten; das Volk, welches die vornehmen Stände getäuscht haben, sieht viesc
scheel an und die Reichen gerathen schon bei dem Namen Socialisten in
Schrecken. Die Föderalisten richten auf Piemont ihre letzten und vergeblichen
Hoffnungen; die Radicalen und die Retrograden führen auf dem Boden des
armen Italiens einen verzweifelten Krieg. Die Länder Italiens endlich sind
untereinander nicht minder uneins: die Lombardei und Genua hegen mehr
oder minder Groll gegen Piemont; Sicilien kann Neapel nicht ausstehen und
Rom ist jedermann verhaßt geworden. — Nach außen beruhte das Risorgimento
auf einem Princip, das nicht minder vernichtet ist, nämlich auf dem Einver-
ständniß der politischen Tendenzen Italiens mit denen von ganz Europa; vor
1848 erstrebten alle europäischen Völker, und mit ihnen Italien, einmüthig die
Eroberung oder die Befestigung der öffentlichen Freiheit. Was ist heute aus
dieser Bewegung geworden? — Die Politik des Risorgimento, so viel Verdienst
sie ihrer Zeit auch haben mochte, hat sich daher erschöpft und ein neues System
ist nothwendig geworden, das mit den Bedürfnissen der Zeit mehr in Ein¬
klang steht.

Dieses neue System nun nennt Gioberti die bürgerliche Erneuerung
(Rinnovamento) Italiens. Das Risorgimento erstrebte eine allmälige Um¬
wandlung Italiens durch eine Reihe von Reformen, das Rinnovamento hat
einen mehr revolutionären Anstrich und Charakter (avrg piuttosto aspetto v
«Rauda al rivalmione). Das Risorgimento war eine rein italienische Be¬
wegung; das Rinnovamento dagegen soll in seinem Gange und seinen Resul¬
taten wesentlich eine europäische Bewegung sein; die Regeneration Italiens,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/423>, abgerufen am 23.07.2024.