Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Männern seiner Zeit. Die Astrologie war damals unter den zahlreichen Me¬
thoden der Prophezeihung die angesehenste. Die allgemeine Unsicherheit und Ge¬
fahr in einer Zeit, wo das Schicksal jedes Unterthanen von unberechenbaren
Despotenlaunen abhing, wo der nächste Tag schwindelerregendes Glück oder
jähes Verderben bringen konnte, wo die Ereignisse sich völlig der Berechnung
entzogen--diese Zustände verbreiteten überall ein leidenschaftliches Verlangen
den Schleier zu lüften, der die Geheimnisse der Zukunft zudeckte. Dazu kam die
Unberechenbarkeit der Thronfolge, die fast nie durch legitimes Erbrecht, sondern
im besten Falle durch den Willen des Regenten, gewöhnlich aber durch Palast¬
intriguen und Militärrevolutionen bestimmt wurde; dies hatte zur Folge, daß
bei allen, deren Schicksal mittelbar oder unmittelbar an die Thronfolge ge¬
knüpft war, ein Zustand von Aufregung und Spannung permanent wurde.
Selbst die Aussichten derer, die nur auf gesetzlichem Wege nach der höchsten
Gewalt strebten, hatten immer einen weiten Spielraum, die Unternehmungen
der Rebellen und Verschwörer eine sichere Basis. Der Ablauf der bestehenden,
der Anfang der künftigen Negierung war der Gegenstand zahlloser Wünsche,
Berechnungen, Befürchtungen und Hoffnungen. Unter solchen Einflüssen er¬
wuchs die Prophezeihung, durch die man aus der Geburtsstunde jedes Menschen
sein Schicksal und Ende mit mathematischer Gewißheit ermitteln zu können
glaubte, zu einer bedeutenden Macht. Sie befriedigte nicht blos den Hang
der Menge zum Uebernatürlichen und Geheimnißvollen, sie blendete auch die
Gebildeten durch ihre scheinbare Wissenschaftlichkeit und ihren engen Zusammen¬
hang mit der damals mit Vorliebe betriebenen Astronomie. Am meisten Boden
gewann sie aber durch den Glauben an ein unabänderliches, von Urbeginn an
verhängtes Fatum, der in der römischen Welt eine ungemeine Verbreitung
gefunden hatte. War doch ein Tacitus zweifelhaft, ob der Fürsten Zuneigung
für die einen, ihr Widerwille gegen die andern wie alles übrige vom Schick¬
sal und vom Zufall der Geburt abhänge, oder ob etwas auf unsre Hand¬
lungsweise ankomme. Auf diesen düstern und trostlosen Fatumsglauben war
aber die Wissenschaft begründet, welche den ganzen Verlauf des Lebens aus
der Stellung der Gestirne in der Geburtsstunde herleitete. Ihre Anhänger
ließen sich nicht dadurch irre machen, daß die Prophezeihungen der Astrologen
täglich durch die Ereignisse Lügen gestraft wurden, daß verschiedene Schulen
derselben aus einer Constellation verschiedene Schicksale prophezeiten: sie schrie¬
ben dies und ähnliches dem Betrüge und der Unwissenheit der Gelehrten, nicht
der Unvollkommenheit der Wissenschaft zu und behielten nur die angeblich oder
wirklich eingetroffenen Prophezeihungen im Gedächtniß.

Wie gefährlich die Astrologie für die Regierungen war, ist leicht zu er¬
messe,,. Die Chaldäer (so nannte man die Astrologen von der Heimath ihrer
Wissenschaft) hatten ein lebhaftes Interesse, in ihren Prophezeihungen sich nach


Männern seiner Zeit. Die Astrologie war damals unter den zahlreichen Me¬
thoden der Prophezeihung die angesehenste. Die allgemeine Unsicherheit und Ge¬
fahr in einer Zeit, wo das Schicksal jedes Unterthanen von unberechenbaren
Despotenlaunen abhing, wo der nächste Tag schwindelerregendes Glück oder
jähes Verderben bringen konnte, wo die Ereignisse sich völlig der Berechnung
entzogen—diese Zustände verbreiteten überall ein leidenschaftliches Verlangen
den Schleier zu lüften, der die Geheimnisse der Zukunft zudeckte. Dazu kam die
Unberechenbarkeit der Thronfolge, die fast nie durch legitimes Erbrecht, sondern
im besten Falle durch den Willen des Regenten, gewöhnlich aber durch Palast¬
intriguen und Militärrevolutionen bestimmt wurde; dies hatte zur Folge, daß
bei allen, deren Schicksal mittelbar oder unmittelbar an die Thronfolge ge¬
knüpft war, ein Zustand von Aufregung und Spannung permanent wurde.
Selbst die Aussichten derer, die nur auf gesetzlichem Wege nach der höchsten
Gewalt strebten, hatten immer einen weiten Spielraum, die Unternehmungen
der Rebellen und Verschwörer eine sichere Basis. Der Ablauf der bestehenden,
der Anfang der künftigen Negierung war der Gegenstand zahlloser Wünsche,
Berechnungen, Befürchtungen und Hoffnungen. Unter solchen Einflüssen er¬
wuchs die Prophezeihung, durch die man aus der Geburtsstunde jedes Menschen
sein Schicksal und Ende mit mathematischer Gewißheit ermitteln zu können
glaubte, zu einer bedeutenden Macht. Sie befriedigte nicht blos den Hang
der Menge zum Uebernatürlichen und Geheimnißvollen, sie blendete auch die
Gebildeten durch ihre scheinbare Wissenschaftlichkeit und ihren engen Zusammen¬
hang mit der damals mit Vorliebe betriebenen Astronomie. Am meisten Boden
gewann sie aber durch den Glauben an ein unabänderliches, von Urbeginn an
verhängtes Fatum, der in der römischen Welt eine ungemeine Verbreitung
gefunden hatte. War doch ein Tacitus zweifelhaft, ob der Fürsten Zuneigung
für die einen, ihr Widerwille gegen die andern wie alles übrige vom Schick¬
sal und vom Zufall der Geburt abhänge, oder ob etwas auf unsre Hand¬
lungsweise ankomme. Auf diesen düstern und trostlosen Fatumsglauben war
aber die Wissenschaft begründet, welche den ganzen Verlauf des Lebens aus
der Stellung der Gestirne in der Geburtsstunde herleitete. Ihre Anhänger
ließen sich nicht dadurch irre machen, daß die Prophezeihungen der Astrologen
täglich durch die Ereignisse Lügen gestraft wurden, daß verschiedene Schulen
derselben aus einer Constellation verschiedene Schicksale prophezeiten: sie schrie¬
ben dies und ähnliches dem Betrüge und der Unwissenheit der Gelehrten, nicht
der Unvollkommenheit der Wissenschaft zu und behielten nur die angeblich oder
wirklich eingetroffenen Prophezeihungen im Gedächtniß.

Wie gefährlich die Astrologie für die Regierungen war, ist leicht zu er¬
messe,,. Die Chaldäer (so nannte man die Astrologen von der Heimath ihrer
Wissenschaft) hatten ein lebhaftes Interesse, in ihren Prophezeihungen sich nach


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0399" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103532"/>
            <p xml:id="ID_1405" prev="#ID_1404"> Männern seiner Zeit.  Die Astrologie war damals unter den zahlreichen Me¬<lb/>
thoden der Prophezeihung die angesehenste. Die allgemeine Unsicherheit und Ge¬<lb/>
fahr in einer Zeit, wo das Schicksal jedes Unterthanen von unberechenbaren<lb/>
Despotenlaunen abhing, wo der nächste Tag schwindelerregendes Glück oder<lb/>
jähes Verderben bringen konnte, wo die Ereignisse sich völlig der Berechnung<lb/>
entzogen&#x2014;diese Zustände verbreiteten überall ein leidenschaftliches Verlangen<lb/>
den Schleier zu lüften, der die Geheimnisse der Zukunft zudeckte. Dazu kam die<lb/>
Unberechenbarkeit der Thronfolge, die fast nie durch legitimes Erbrecht, sondern<lb/>
im besten Falle durch den Willen des Regenten, gewöhnlich aber durch Palast¬<lb/>
intriguen und Militärrevolutionen bestimmt wurde; dies hatte zur Folge, daß<lb/>
bei allen, deren Schicksal mittelbar oder unmittelbar an die Thronfolge ge¬<lb/>
knüpft war, ein Zustand von Aufregung und Spannung permanent wurde.<lb/>
Selbst die Aussichten derer, die nur auf gesetzlichem Wege nach der höchsten<lb/>
Gewalt strebten, hatten immer einen weiten Spielraum, die Unternehmungen<lb/>
der Rebellen und Verschwörer eine sichere Basis. Der Ablauf der bestehenden,<lb/>
der Anfang der künftigen Negierung war der Gegenstand zahlloser Wünsche,<lb/>
Berechnungen, Befürchtungen und Hoffnungen.  Unter solchen Einflüssen er¬<lb/>
wuchs die Prophezeihung, durch die man aus der Geburtsstunde jedes Menschen<lb/>
sein Schicksal und Ende mit mathematischer Gewißheit ermitteln zu können<lb/>
glaubte, zu einer bedeutenden Macht.  Sie befriedigte nicht blos den Hang<lb/>
der Menge zum Uebernatürlichen und Geheimnißvollen, sie blendete auch die<lb/>
Gebildeten durch ihre scheinbare Wissenschaftlichkeit und ihren engen Zusammen¬<lb/>
hang mit der damals mit Vorliebe betriebenen Astronomie. Am meisten Boden<lb/>
gewann sie aber durch den Glauben an ein unabänderliches, von Urbeginn an<lb/>
verhängtes Fatum, der in der römischen Welt eine ungemeine Verbreitung<lb/>
gefunden hatte.  War doch ein Tacitus zweifelhaft, ob der Fürsten Zuneigung<lb/>
für die einen, ihr Widerwille gegen die andern wie alles übrige vom Schick¬<lb/>
sal und vom Zufall der Geburt abhänge, oder ob etwas auf unsre Hand¬<lb/>
lungsweise ankomme.  Auf diesen düstern und trostlosen Fatumsglauben war<lb/>
aber die Wissenschaft begründet, welche den ganzen Verlauf des Lebens aus<lb/>
der Stellung der Gestirne in der Geburtsstunde herleitete.  Ihre Anhänger<lb/>
ließen sich nicht dadurch irre machen, daß die Prophezeihungen der Astrologen<lb/>
täglich durch die Ereignisse Lügen gestraft wurden, daß verschiedene Schulen<lb/>
derselben aus einer Constellation verschiedene Schicksale prophezeiten: sie schrie¬<lb/>
ben dies und ähnliches dem Betrüge und der Unwissenheit der Gelehrten, nicht<lb/>
der Unvollkommenheit der Wissenschaft zu und behielten nur die angeblich oder<lb/>
wirklich eingetroffenen Prophezeihungen im Gedächtniß.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1406" next="#ID_1407"> Wie gefährlich die Astrologie für die Regierungen war, ist leicht zu er¬<lb/>
messe,,. Die Chaldäer (so nannte man die Astrologen von der Heimath ihrer<lb/>
Wissenschaft) hatten ein lebhaftes Interesse, in ihren Prophezeihungen sich nach</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0399] Männern seiner Zeit. Die Astrologie war damals unter den zahlreichen Me¬ thoden der Prophezeihung die angesehenste. Die allgemeine Unsicherheit und Ge¬ fahr in einer Zeit, wo das Schicksal jedes Unterthanen von unberechenbaren Despotenlaunen abhing, wo der nächste Tag schwindelerregendes Glück oder jähes Verderben bringen konnte, wo die Ereignisse sich völlig der Berechnung entzogen—diese Zustände verbreiteten überall ein leidenschaftliches Verlangen den Schleier zu lüften, der die Geheimnisse der Zukunft zudeckte. Dazu kam die Unberechenbarkeit der Thronfolge, die fast nie durch legitimes Erbrecht, sondern im besten Falle durch den Willen des Regenten, gewöhnlich aber durch Palast¬ intriguen und Militärrevolutionen bestimmt wurde; dies hatte zur Folge, daß bei allen, deren Schicksal mittelbar oder unmittelbar an die Thronfolge ge¬ knüpft war, ein Zustand von Aufregung und Spannung permanent wurde. Selbst die Aussichten derer, die nur auf gesetzlichem Wege nach der höchsten Gewalt strebten, hatten immer einen weiten Spielraum, die Unternehmungen der Rebellen und Verschwörer eine sichere Basis. Der Ablauf der bestehenden, der Anfang der künftigen Negierung war der Gegenstand zahlloser Wünsche, Berechnungen, Befürchtungen und Hoffnungen. Unter solchen Einflüssen er¬ wuchs die Prophezeihung, durch die man aus der Geburtsstunde jedes Menschen sein Schicksal und Ende mit mathematischer Gewißheit ermitteln zu können glaubte, zu einer bedeutenden Macht. Sie befriedigte nicht blos den Hang der Menge zum Uebernatürlichen und Geheimnißvollen, sie blendete auch die Gebildeten durch ihre scheinbare Wissenschaftlichkeit und ihren engen Zusammen¬ hang mit der damals mit Vorliebe betriebenen Astronomie. Am meisten Boden gewann sie aber durch den Glauben an ein unabänderliches, von Urbeginn an verhängtes Fatum, der in der römischen Welt eine ungemeine Verbreitung gefunden hatte. War doch ein Tacitus zweifelhaft, ob der Fürsten Zuneigung für die einen, ihr Widerwille gegen die andern wie alles übrige vom Schick¬ sal und vom Zufall der Geburt abhänge, oder ob etwas auf unsre Hand¬ lungsweise ankomme. Auf diesen düstern und trostlosen Fatumsglauben war aber die Wissenschaft begründet, welche den ganzen Verlauf des Lebens aus der Stellung der Gestirne in der Geburtsstunde herleitete. Ihre Anhänger ließen sich nicht dadurch irre machen, daß die Prophezeihungen der Astrologen täglich durch die Ereignisse Lügen gestraft wurden, daß verschiedene Schulen derselben aus einer Constellation verschiedene Schicksale prophezeiten: sie schrie¬ ben dies und ähnliches dem Betrüge und der Unwissenheit der Gelehrten, nicht der Unvollkommenheit der Wissenschaft zu und behielten nur die angeblich oder wirklich eingetroffenen Prophezeihungen im Gedächtniß. Wie gefährlich die Astrologie für die Regierungen war, ist leicht zu er¬ messe,,. Die Chaldäer (so nannte man die Astrologen von der Heimath ihrer Wissenschaft) hatten ein lebhaftes Interesse, in ihren Prophezeihungen sich nach

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/399
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/399>, abgerufen am 22.12.2024.