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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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mäßig zur Geltung zu bringen; nur zeigt sich freilich hier, daß der systematische
Geist, der für eine umfassende Periode die verbindenden Fäden richtig heraus¬
erkennt, sür einen kürzeren, bestimmten Zeitraum nicht ausreicht.

Es ist ein ungerechter Vorwurf, wenn man von der Philosophie der Ge¬
schichte behauptet, sie lege den Begriff der innern Nothwendigkeit in den Gang
der Begebenheiten erst hinein, da in der wirklichen Welt der Zufall seine
Macht ausübe. Für den aufmerksamen Beobachter ist es ganz augenscheinlich,
daß sich die Thatsachen durch ihre innere Schwerkraft tragen d. h. daß diejenigen
Momente, welche zur Existenz berechtigt sind, sich auch die Existenz erkämpfen.
Uebersicht man die Geschichte von einer hohem Warte, so erkennt man, daß
Vernunft in ihr waltet, und daß auch jenes Spiel des Zufalls, welches an¬
scheinend den Gang derselben unterbricht, höheren Zwecken dienen muß. Steht
man aber den Ereignissen zu nahe, so wird usu leicht verführt, den Zusam¬
menhang an einer falschen Perspektive zu sehen, und da einen Abschluß zu
suchen, wo vielleicht nur jenes dämonische Spiel waltet, das sich der Berech¬
nung entzieht. Den Zusammenhang deS Mittelalters hat Guizot richtig dar¬
gestellt, weil es hier auf eine Analyse massenhaft sich drängender Zustände an¬
kam, für die er den großen Blick mitbrachte. Schon dem kurzen Zeitraum der
englischen Revolution thut er Gewalt an, indem er ihn zu logisch darstellt,
und während bei dem Mittelalter seine Analyse die Deutlichkeit der Anschauung
erhöht, schwächt sie in der Geschichte des 17. Jahrhunderts die Kraft der
Farbe und Zeichnung. In noch größere Irrthümer ist er in Bezug auf die
Gegenwart verfallen. Er hat gehandelt, um für einen Geschichtschreiber seiner
Art, der etwa nach zweihundert Jahren die Periode der französischen Revolu¬
tion darstellte, den Forderungen zu genügen, und er hat darüber übersehen,
waS der Tag erheischte. Mit dem besten Willen von der Welt, mit warmer
Liebe zu seinem Vaterlande hat er, der geistvolle Mann, sich doch durch die
Kurzsichtigen beschämen lassen und ist ein Spiel jenes Zufalls geworden, den
er so sehr verachtet. Die Zustände des 3. Jahrhunderts hat er ans den
Quellen richtig hergeleitet, aber er hat es nicht verstanden, den Charakter des
Fürsten, mit dem er täglich verkehrte, genau zu berechnen, die Kräfte, über
die er disponiren konnte, und die Gegner, die auf seinen Sturz lauerten, in
ein bestimmtes Verhältniß zu setzen. Er hat kein Recht mehr, seinem Volk
Regeln und Warnungen zu ertheilen, denn er hat die ersten Elemente der
I. S. Staatskunst auf eine verhängnißvolle Weise verkannt.




mäßig zur Geltung zu bringen; nur zeigt sich freilich hier, daß der systematische
Geist, der für eine umfassende Periode die verbindenden Fäden richtig heraus¬
erkennt, sür einen kürzeren, bestimmten Zeitraum nicht ausreicht.

Es ist ein ungerechter Vorwurf, wenn man von der Philosophie der Ge¬
schichte behauptet, sie lege den Begriff der innern Nothwendigkeit in den Gang
der Begebenheiten erst hinein, da in der wirklichen Welt der Zufall seine
Macht ausübe. Für den aufmerksamen Beobachter ist es ganz augenscheinlich,
daß sich die Thatsachen durch ihre innere Schwerkraft tragen d. h. daß diejenigen
Momente, welche zur Existenz berechtigt sind, sich auch die Existenz erkämpfen.
Uebersicht man die Geschichte von einer hohem Warte, so erkennt man, daß
Vernunft in ihr waltet, und daß auch jenes Spiel des Zufalls, welches an¬
scheinend den Gang derselben unterbricht, höheren Zwecken dienen muß. Steht
man aber den Ereignissen zu nahe, so wird usu leicht verführt, den Zusam¬
menhang an einer falschen Perspektive zu sehen, und da einen Abschluß zu
suchen, wo vielleicht nur jenes dämonische Spiel waltet, das sich der Berech¬
nung entzieht. Den Zusammenhang deS Mittelalters hat Guizot richtig dar¬
gestellt, weil es hier auf eine Analyse massenhaft sich drängender Zustände an¬
kam, für die er den großen Blick mitbrachte. Schon dem kurzen Zeitraum der
englischen Revolution thut er Gewalt an, indem er ihn zu logisch darstellt,
und während bei dem Mittelalter seine Analyse die Deutlichkeit der Anschauung
erhöht, schwächt sie in der Geschichte des 17. Jahrhunderts die Kraft der
Farbe und Zeichnung. In noch größere Irrthümer ist er in Bezug auf die
Gegenwart verfallen. Er hat gehandelt, um für einen Geschichtschreiber seiner
Art, der etwa nach zweihundert Jahren die Periode der französischen Revolu¬
tion darstellte, den Forderungen zu genügen, und er hat darüber übersehen,
waS der Tag erheischte. Mit dem besten Willen von der Welt, mit warmer
Liebe zu seinem Vaterlande hat er, der geistvolle Mann, sich doch durch die
Kurzsichtigen beschämen lassen und ist ein Spiel jenes Zufalls geworden, den
er so sehr verachtet. Die Zustände des 3. Jahrhunderts hat er ans den
Quellen richtig hergeleitet, aber er hat es nicht verstanden, den Charakter des
Fürsten, mit dem er täglich verkehrte, genau zu berechnen, die Kräfte, über
die er disponiren konnte, und die Gegner, die auf seinen Sturz lauerten, in
ein bestimmtes Verhältniß zu setzen. Er hat kein Recht mehr, seinem Volk
Regeln und Warnungen zu ertheilen, denn er hat die ersten Elemente der
I. S. Staatskunst auf eine verhängnißvolle Weise verkannt.




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[0387] mäßig zur Geltung zu bringen; nur zeigt sich freilich hier, daß der systematische Geist, der für eine umfassende Periode die verbindenden Fäden richtig heraus¬ erkennt, sür einen kürzeren, bestimmten Zeitraum nicht ausreicht. Es ist ein ungerechter Vorwurf, wenn man von der Philosophie der Ge¬ schichte behauptet, sie lege den Begriff der innern Nothwendigkeit in den Gang der Begebenheiten erst hinein, da in der wirklichen Welt der Zufall seine Macht ausübe. Für den aufmerksamen Beobachter ist es ganz augenscheinlich, daß sich die Thatsachen durch ihre innere Schwerkraft tragen d. h. daß diejenigen Momente, welche zur Existenz berechtigt sind, sich auch die Existenz erkämpfen. Uebersicht man die Geschichte von einer hohem Warte, so erkennt man, daß Vernunft in ihr waltet, und daß auch jenes Spiel des Zufalls, welches an¬ scheinend den Gang derselben unterbricht, höheren Zwecken dienen muß. Steht man aber den Ereignissen zu nahe, so wird usu leicht verführt, den Zusam¬ menhang an einer falschen Perspektive zu sehen, und da einen Abschluß zu suchen, wo vielleicht nur jenes dämonische Spiel waltet, das sich der Berech¬ nung entzieht. Den Zusammenhang deS Mittelalters hat Guizot richtig dar¬ gestellt, weil es hier auf eine Analyse massenhaft sich drängender Zustände an¬ kam, für die er den großen Blick mitbrachte. Schon dem kurzen Zeitraum der englischen Revolution thut er Gewalt an, indem er ihn zu logisch darstellt, und während bei dem Mittelalter seine Analyse die Deutlichkeit der Anschauung erhöht, schwächt sie in der Geschichte des 17. Jahrhunderts die Kraft der Farbe und Zeichnung. In noch größere Irrthümer ist er in Bezug auf die Gegenwart verfallen. Er hat gehandelt, um für einen Geschichtschreiber seiner Art, der etwa nach zweihundert Jahren die Periode der französischen Revolu¬ tion darstellte, den Forderungen zu genügen, und er hat darüber übersehen, waS der Tag erheischte. Mit dem besten Willen von der Welt, mit warmer Liebe zu seinem Vaterlande hat er, der geistvolle Mann, sich doch durch die Kurzsichtigen beschämen lassen und ist ein Spiel jenes Zufalls geworden, den er so sehr verachtet. Die Zustände des 3. Jahrhunderts hat er ans den Quellen richtig hergeleitet, aber er hat es nicht verstanden, den Charakter des Fürsten, mit dem er täglich verkehrte, genau zu berechnen, die Kräfte, über die er disponiren konnte, und die Gegner, die auf seinen Sturz lauerten, in ein bestimmtes Verhältniß zu setzen. Er hat kein Recht mehr, seinem Volk Regeln und Warnungen zu ertheilen, denn er hat die ersten Elemente der I. S. Staatskunst auf eine verhängnißvolle Weise verkannt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/387>, abgerufen am 22.07.2024.