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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Es ist ein für daS gewaltige, seinem Zeitalter weit vorausgeschrittene Genie
Karls des Großen sehr charakteristisches Factum, daß er die Schöpfungen des
heidnischen Glaubens, den er mit den härtesten Zwangsmitteln bekämpfte, doch
als Denkmäler einer merkwürdigen Vergangenheit zu erhalten bestrebt war;
seine Sorge sür die Aufzeichnung der alten heidnischen Gesänge ist bekannt.
Sein Sohn Ludwig der Fromme repräsentirt den Standpunkt seiner Zeit da¬
für um so genauer. Er hatte die alten Bardenlieder als Knabe gelernt, ver¬
abscheute sie aber in seinem reifern Alter so sehr, daß er nie dazu gebracht
werden konnte, sie zu wiederholen oder zu dulden.

Wie im griechischen Alterthum die Stammbäume der Königs- und Helden¬
geschlechter auf Zeus, so waren die der nordischen auf Odin zurückgeführt ge¬
wesen. Als Odins Verehrung erlosch, verlängerte man sie bis Noah öder
Japhet, und Odin ward aus dem göttlichen Urheber des Geschlechts nur ein
menschliches Glied in der Reihe. Bedurfte es noch eines Beweises, daß diese
Genealogien nicht aus umgeformten und geschmückten historischen Erinnerungen
entstanden sind, sondern aus dem religiösen Gefühl; daß ihr Werth nicht in
ihrer Länge bestand, sondern in der herbeigeführten Verbindung der gegenwär¬
tigen Geschlechter mit den alten Göttern: so würde diese Veränderung ihn
liefern. Hätte Griechenland das Christenthum erhalten, bevor die Thätigkeit
der mvthenbildenden Substanz völlig erloschen war, so würden auch hier die
Namenreihen der Pelopiden, Aeakiven, Herakliden von Zeus aufwärts weiter¬
geführt sein und sich in längern Reihen verloren haben, die in den Genea¬
logien des alten Testaments geendet hätten. Der Geist der Weltgeschichte
wollte es anders; und die mythenbildende Strömung behielt in Hellas ihren
Laus, wenn sie auch mit verminderter Gewalt dahinfloß. Im modernen Europa
dagegen wurde ihr Bett umgedämmt und in neue Kanäle geleitet. Die alte
Religion war als herrschender Glaube gestürzt, aber in veränderter Gestalt
lebten die Heidengötter doch in den Gemüthern der Menschen fort. Die christ¬
lichen Schriftsteller, die die alten skandinavischen Skaldengesänge auszeichneten
und zu einer zusammenhängenden Erzählung verbanden, wie Saro Gramma-
ticus und Snorre Sturleson, verfuhren mit den Gestalten der Sage zum Theil
wie die Kirchenväter mit den Griechengöttern d. h. sie erklärten sie für böse
Dämonen und schlaue Zauberer, die die Menschen mit falschem Glauben an
ihre Göttlichkeit zu beschwören vermocht hätten. So wie Apollo, der herr¬
liche Gott der Cither und des Bogens, dem Mittelalrer durch die Lehre der
Kirche zu einem bösen Teufel geworden war, der mit den Erzfeinden des
Christenthums, den Muselmännern, gemeine Sache machte (mittelalterliche
Gedichte nennen ihn Apollis oder Apollyon): ebenso erklärt Saro Gramma-
ticus den Odin'bald als einen Zauberer, bald als einen Dämon oder als
ven hohen Priester des Paganismus, der seinem Volk so mächtig imponirte,


Es ist ein für daS gewaltige, seinem Zeitalter weit vorausgeschrittene Genie
Karls des Großen sehr charakteristisches Factum, daß er die Schöpfungen des
heidnischen Glaubens, den er mit den härtesten Zwangsmitteln bekämpfte, doch
als Denkmäler einer merkwürdigen Vergangenheit zu erhalten bestrebt war;
seine Sorge sür die Aufzeichnung der alten heidnischen Gesänge ist bekannt.
Sein Sohn Ludwig der Fromme repräsentirt den Standpunkt seiner Zeit da¬
für um so genauer. Er hatte die alten Bardenlieder als Knabe gelernt, ver¬
abscheute sie aber in seinem reifern Alter so sehr, daß er nie dazu gebracht
werden konnte, sie zu wiederholen oder zu dulden.

Wie im griechischen Alterthum die Stammbäume der Königs- und Helden¬
geschlechter auf Zeus, so waren die der nordischen auf Odin zurückgeführt ge¬
wesen. Als Odins Verehrung erlosch, verlängerte man sie bis Noah öder
Japhet, und Odin ward aus dem göttlichen Urheber des Geschlechts nur ein
menschliches Glied in der Reihe. Bedurfte es noch eines Beweises, daß diese
Genealogien nicht aus umgeformten und geschmückten historischen Erinnerungen
entstanden sind, sondern aus dem religiösen Gefühl; daß ihr Werth nicht in
ihrer Länge bestand, sondern in der herbeigeführten Verbindung der gegenwär¬
tigen Geschlechter mit den alten Göttern: so würde diese Veränderung ihn
liefern. Hätte Griechenland das Christenthum erhalten, bevor die Thätigkeit
der mvthenbildenden Substanz völlig erloschen war, so würden auch hier die
Namenreihen der Pelopiden, Aeakiven, Herakliden von Zeus aufwärts weiter¬
geführt sein und sich in längern Reihen verloren haben, die in den Genea¬
logien des alten Testaments geendet hätten. Der Geist der Weltgeschichte
wollte es anders; und die mythenbildende Strömung behielt in Hellas ihren
Laus, wenn sie auch mit verminderter Gewalt dahinfloß. Im modernen Europa
dagegen wurde ihr Bett umgedämmt und in neue Kanäle geleitet. Die alte
Religion war als herrschender Glaube gestürzt, aber in veränderter Gestalt
lebten die Heidengötter doch in den Gemüthern der Menschen fort. Die christ¬
lichen Schriftsteller, die die alten skandinavischen Skaldengesänge auszeichneten
und zu einer zusammenhängenden Erzählung verbanden, wie Saro Gramma-
ticus und Snorre Sturleson, verfuhren mit den Gestalten der Sage zum Theil
wie die Kirchenväter mit den Griechengöttern d. h. sie erklärten sie für böse
Dämonen und schlaue Zauberer, die die Menschen mit falschem Glauben an
ihre Göttlichkeit zu beschwören vermocht hätten. So wie Apollo, der herr¬
liche Gott der Cither und des Bogens, dem Mittelalrer durch die Lehre der
Kirche zu einem bösen Teufel geworden war, der mit den Erzfeinden des
Christenthums, den Muselmännern, gemeine Sache machte (mittelalterliche
Gedichte nennen ihn Apollis oder Apollyon): ebenso erklärt Saro Gramma-
ticus den Odin'bald als einen Zauberer, bald als einen Dämon oder als
ven hohen Priester des Paganismus, der seinem Volk so mächtig imponirte,


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[0298] Es ist ein für daS gewaltige, seinem Zeitalter weit vorausgeschrittene Genie Karls des Großen sehr charakteristisches Factum, daß er die Schöpfungen des heidnischen Glaubens, den er mit den härtesten Zwangsmitteln bekämpfte, doch als Denkmäler einer merkwürdigen Vergangenheit zu erhalten bestrebt war; seine Sorge sür die Aufzeichnung der alten heidnischen Gesänge ist bekannt. Sein Sohn Ludwig der Fromme repräsentirt den Standpunkt seiner Zeit da¬ für um so genauer. Er hatte die alten Bardenlieder als Knabe gelernt, ver¬ abscheute sie aber in seinem reifern Alter so sehr, daß er nie dazu gebracht werden konnte, sie zu wiederholen oder zu dulden. Wie im griechischen Alterthum die Stammbäume der Königs- und Helden¬ geschlechter auf Zeus, so waren die der nordischen auf Odin zurückgeführt ge¬ wesen. Als Odins Verehrung erlosch, verlängerte man sie bis Noah öder Japhet, und Odin ward aus dem göttlichen Urheber des Geschlechts nur ein menschliches Glied in der Reihe. Bedurfte es noch eines Beweises, daß diese Genealogien nicht aus umgeformten und geschmückten historischen Erinnerungen entstanden sind, sondern aus dem religiösen Gefühl; daß ihr Werth nicht in ihrer Länge bestand, sondern in der herbeigeführten Verbindung der gegenwär¬ tigen Geschlechter mit den alten Göttern: so würde diese Veränderung ihn liefern. Hätte Griechenland das Christenthum erhalten, bevor die Thätigkeit der mvthenbildenden Substanz völlig erloschen war, so würden auch hier die Namenreihen der Pelopiden, Aeakiven, Herakliden von Zeus aufwärts weiter¬ geführt sein und sich in längern Reihen verloren haben, die in den Genea¬ logien des alten Testaments geendet hätten. Der Geist der Weltgeschichte wollte es anders; und die mythenbildende Strömung behielt in Hellas ihren Laus, wenn sie auch mit verminderter Gewalt dahinfloß. Im modernen Europa dagegen wurde ihr Bett umgedämmt und in neue Kanäle geleitet. Die alte Religion war als herrschender Glaube gestürzt, aber in veränderter Gestalt lebten die Heidengötter doch in den Gemüthern der Menschen fort. Die christ¬ lichen Schriftsteller, die die alten skandinavischen Skaldengesänge auszeichneten und zu einer zusammenhängenden Erzählung verbanden, wie Saro Gramma- ticus und Snorre Sturleson, verfuhren mit den Gestalten der Sage zum Theil wie die Kirchenväter mit den Griechengöttern d. h. sie erklärten sie für böse Dämonen und schlaue Zauberer, die die Menschen mit falschem Glauben an ihre Göttlichkeit zu beschwören vermocht hätten. So wie Apollo, der herr¬ liche Gott der Cither und des Bogens, dem Mittelalrer durch die Lehre der Kirche zu einem bösen Teufel geworden war, der mit den Erzfeinden des Christenthums, den Muselmännern, gemeine Sache machte (mittelalterliche Gedichte nennen ihn Apollis oder Apollyon): ebenso erklärt Saro Gramma- ticus den Odin'bald als einen Zauberer, bald als einen Dämon oder als ven hohen Priester des Paganismus, der seinem Volk so mächtig imponirte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/298>, abgerufen am 23.07.2024.