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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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auch für das richtige Verständniß der griechischen Mythologie die Kenntniß
der Sage und des Götterglaubens in andern Ländern und zu andern Zeiten
höchst wichtig ist, hat unter andern schon Ottfried Müller anerkannt. Erschei-
nungen und Vorzüge der Sagenbildung und des SagenglaubenS im Mittel¬
alter, im Norden von Europa, im alten Persien und Indien, über deren
Natur kein Zweifel ist, sind am besten geeignet, entsprechende dunkle Partien
der griechischen Mythologie ins richtige Licht zu setzen. Die höchst interessante
Vergleichung, die Grote im siebzehnten Capitel des von l)r. Fischer übersetzten
Bandes zwischen den-katholischen Heiligenlcgenden und dem romantischen
Heldengedicht im Mittelalter einerseits und dem griechischen Mythus andrer¬
seits angestellt hat, wird dies, wie wir hoffen, deutlich zeigen.

Zwischen der griechischen und der mittelalterlichen Sagenpoesie ist ein sehr
wesentlicher Unterschied. Der Genius des griechischen Volks vollendete seine
Entwicklung aus der Jugend zum männlichen Alter aus eigner Kraft, ohne
fremde Einflüsse und Unterstützungen: aus dem frommen Glauben des Sagen-
zeitalters geschah der Uebergang zu historischer Betrachtung und vernunftgemäß
ßer Kritik allmälig ohne gewaltsame Eingriffe von außen oder eine zwangs¬
weise hervorgebrachte Veränderung in der Sinnes- und Gefühlsweise der
Nation. Der Abstand zwischen Homer und Hesiod einerseits und Thucydides
Und Aristoteles andrerseits ist ungeheuer; aber die Durchmessung dieses Ab-
standes ist durch einen naturgemäßen ungestörten Fortschritt, geschehen; die
Entwicklung der griechischen Nation (und das ist einer ihrer Hauptvorzüge) ist
eine organische, von innen heraus erwachsene gewesen. Wenn also auch das
sittliche Gefühl und das kruische Urtheil im Zeitalter des Perikles und Alexan¬
der dem Bewußtsein der sagenbildenden Periode entwachsen war, so blieben
ihre Schöpfungen immer noch Gegenstand der Liebe und Verehrung und be¬
hielten ihren Einfluß auf die geistige Bildung der spätern Griechen.

Ganz anders erfolgte die Entwicklung der germanischen Stämme in Mittel¬
europa. Sie wurde ganz und gar durch einen fremden Einfluß bewirkt, die
Germanen empfingen nicht nur ihre Cultur, sondern auch, was hier am wich¬
tigsten ist, eine neue Religion von den Römern. So erfolgte ein vollständiger
Bruch mit der Vergangenheit, die Gestalten, die das sagenbildende Zeitalter
geschaffen hatte, wurden auf einmal von ihren Stellen gestürzt. Wodan und
Thor, Baldur und Freia fielen von ihren Thronen, und die Neubekehrten,
die natürlich nicht im Stande waren, sogleich allen Glauben an die Realität
der so lange angebeteten Götter aufzugeben, hatten die Wahl, sie fernerhin als
Menschen oder als böse Geister anzusehen. Die lateinisch gebildete Priester¬
schaft bildete eine Phalanr, die den Gläubigen und Verbreitern der alten
Barbenlieber feindlich gegenüberstand: die lateinische Literatur verband sich mit
dem Christenthum, um die alten Götter- und Heroenmythen zu verdrängen.


Grenzboten. I- 1L67. 37

auch für das richtige Verständniß der griechischen Mythologie die Kenntniß
der Sage und des Götterglaubens in andern Ländern und zu andern Zeiten
höchst wichtig ist, hat unter andern schon Ottfried Müller anerkannt. Erschei-
nungen und Vorzüge der Sagenbildung und des SagenglaubenS im Mittel¬
alter, im Norden von Europa, im alten Persien und Indien, über deren
Natur kein Zweifel ist, sind am besten geeignet, entsprechende dunkle Partien
der griechischen Mythologie ins richtige Licht zu setzen. Die höchst interessante
Vergleichung, die Grote im siebzehnten Capitel des von l)r. Fischer übersetzten
Bandes zwischen den-katholischen Heiligenlcgenden und dem romantischen
Heldengedicht im Mittelalter einerseits und dem griechischen Mythus andrer¬
seits angestellt hat, wird dies, wie wir hoffen, deutlich zeigen.

Zwischen der griechischen und der mittelalterlichen Sagenpoesie ist ein sehr
wesentlicher Unterschied. Der Genius des griechischen Volks vollendete seine
Entwicklung aus der Jugend zum männlichen Alter aus eigner Kraft, ohne
fremde Einflüsse und Unterstützungen: aus dem frommen Glauben des Sagen-
zeitalters geschah der Uebergang zu historischer Betrachtung und vernunftgemäß
ßer Kritik allmälig ohne gewaltsame Eingriffe von außen oder eine zwangs¬
weise hervorgebrachte Veränderung in der Sinnes- und Gefühlsweise der
Nation. Der Abstand zwischen Homer und Hesiod einerseits und Thucydides
Und Aristoteles andrerseits ist ungeheuer; aber die Durchmessung dieses Ab-
standes ist durch einen naturgemäßen ungestörten Fortschritt, geschehen; die
Entwicklung der griechischen Nation (und das ist einer ihrer Hauptvorzüge) ist
eine organische, von innen heraus erwachsene gewesen. Wenn also auch das
sittliche Gefühl und das kruische Urtheil im Zeitalter des Perikles und Alexan¬
der dem Bewußtsein der sagenbildenden Periode entwachsen war, so blieben
ihre Schöpfungen immer noch Gegenstand der Liebe und Verehrung und be¬
hielten ihren Einfluß auf die geistige Bildung der spätern Griechen.

Ganz anders erfolgte die Entwicklung der germanischen Stämme in Mittel¬
europa. Sie wurde ganz und gar durch einen fremden Einfluß bewirkt, die
Germanen empfingen nicht nur ihre Cultur, sondern auch, was hier am wich¬
tigsten ist, eine neue Religion von den Römern. So erfolgte ein vollständiger
Bruch mit der Vergangenheit, die Gestalten, die das sagenbildende Zeitalter
geschaffen hatte, wurden auf einmal von ihren Stellen gestürzt. Wodan und
Thor, Baldur und Freia fielen von ihren Thronen, und die Neubekehrten,
die natürlich nicht im Stande waren, sogleich allen Glauben an die Realität
der so lange angebeteten Götter aufzugeben, hatten die Wahl, sie fernerhin als
Menschen oder als böse Geister anzusehen. Die lateinisch gebildete Priester¬
schaft bildete eine Phalanr, die den Gläubigen und Verbreitern der alten
Barbenlieber feindlich gegenüberstand: die lateinische Literatur verband sich mit
dem Christenthum, um die alten Götter- und Heroenmythen zu verdrängen.


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[0297] auch für das richtige Verständniß der griechischen Mythologie die Kenntniß der Sage und des Götterglaubens in andern Ländern und zu andern Zeiten höchst wichtig ist, hat unter andern schon Ottfried Müller anerkannt. Erschei- nungen und Vorzüge der Sagenbildung und des SagenglaubenS im Mittel¬ alter, im Norden von Europa, im alten Persien und Indien, über deren Natur kein Zweifel ist, sind am besten geeignet, entsprechende dunkle Partien der griechischen Mythologie ins richtige Licht zu setzen. Die höchst interessante Vergleichung, die Grote im siebzehnten Capitel des von l)r. Fischer übersetzten Bandes zwischen den-katholischen Heiligenlcgenden und dem romantischen Heldengedicht im Mittelalter einerseits und dem griechischen Mythus andrer¬ seits angestellt hat, wird dies, wie wir hoffen, deutlich zeigen. Zwischen der griechischen und der mittelalterlichen Sagenpoesie ist ein sehr wesentlicher Unterschied. Der Genius des griechischen Volks vollendete seine Entwicklung aus der Jugend zum männlichen Alter aus eigner Kraft, ohne fremde Einflüsse und Unterstützungen: aus dem frommen Glauben des Sagen- zeitalters geschah der Uebergang zu historischer Betrachtung und vernunftgemäß ßer Kritik allmälig ohne gewaltsame Eingriffe von außen oder eine zwangs¬ weise hervorgebrachte Veränderung in der Sinnes- und Gefühlsweise der Nation. Der Abstand zwischen Homer und Hesiod einerseits und Thucydides Und Aristoteles andrerseits ist ungeheuer; aber die Durchmessung dieses Ab- standes ist durch einen naturgemäßen ungestörten Fortschritt, geschehen; die Entwicklung der griechischen Nation (und das ist einer ihrer Hauptvorzüge) ist eine organische, von innen heraus erwachsene gewesen. Wenn also auch das sittliche Gefühl und das kruische Urtheil im Zeitalter des Perikles und Alexan¬ der dem Bewußtsein der sagenbildenden Periode entwachsen war, so blieben ihre Schöpfungen immer noch Gegenstand der Liebe und Verehrung und be¬ hielten ihren Einfluß auf die geistige Bildung der spätern Griechen. Ganz anders erfolgte die Entwicklung der germanischen Stämme in Mittel¬ europa. Sie wurde ganz und gar durch einen fremden Einfluß bewirkt, die Germanen empfingen nicht nur ihre Cultur, sondern auch, was hier am wich¬ tigsten ist, eine neue Religion von den Römern. So erfolgte ein vollständiger Bruch mit der Vergangenheit, die Gestalten, die das sagenbildende Zeitalter geschaffen hatte, wurden auf einmal von ihren Stellen gestürzt. Wodan und Thor, Baldur und Freia fielen von ihren Thronen, und die Neubekehrten, die natürlich nicht im Stande waren, sogleich allen Glauben an die Realität der so lange angebeteten Götter aufzugeben, hatten die Wahl, sie fernerhin als Menschen oder als böse Geister anzusehen. Die lateinisch gebildete Priester¬ schaft bildete eine Phalanr, die den Gläubigen und Verbreitern der alten Barbenlieber feindlich gegenüberstand: die lateinische Literatur verband sich mit dem Christenthum, um die alten Götter- und Heroenmythen zu verdrängen. Grenzboten. I- 1L67. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/297>, abgerufen am 22.07.2024.