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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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so werden wir in dieser Beziehung dem Franzosen nnbedinqt den Vorzug geben
müssen, so vielen Verdruß uns auch seine Ansichten machen, und so weit er
an Tiefblick namentlich hinter dem letztern zurückbleibt. Die Franzosen sind geborne
Erzähler, und darum fällt es Thiers sehr leicht, den künstlerischen Theil als
die Nebensache zu bezeichnen, denn wer von Natur so erzählt, wie er erzählen
soll, bedarf der Kunst freilich nicht. Dagegen sollten unsere Geschichtschreiber
grade diesen Theil ihres Handwerks viel sorgfältiger ins Auge fassen, als ge¬
wöhnlich geschieht. -- Was den historischen Stil betrifft, so stellt Thiers die
sehr richtige Anforderung, man solle an ihn gar nicht erinnert werden. Die
Geschichte soll ein klarer durchsichtiger Spiegel sein, der nichts als die Gegen¬
stände zeigt und diese in dem richtigen Licht. -- In Beziehung auf das Ur¬
theil fordert Thiers jene Billigkeit, die sich stets daran erinnert, wie viele
Nebenumstände bei dem einzelnen Fall mitwirken. Gewiß wird man im All¬
gemeinen dieser Forderung beipflichten, denn die moralische Pedanterie, die an
alle einzelne Fälle denselben Maßstab legt, jene gellertsche Spießbürgern, die
den ehrlichen Reitknecht höher stellt, als den siegreichen Helden, weil man
ihm weniger zur Last legen kann, eignet sich am wenigsten für die Geschicht¬
schreibung; aber es kommt darauf an, die richtige Grenze zu finden, und diese
hat Thiers nicht immer eingehalten. Zwar protestirt er dagegen, daß man
diese Objektivität mit Gleichgiltigkeit in Bezug auf die moralische" Fragen ver¬
wechseln dürfe; allein es ist bei ihm zuweilen in der That der Fall. Seine
lebhafte Phantasie und sein scharf eindringender Verstand macht sich zuweilen
zum Herrn über ihn, und seine sittliche Integrität ist nicht immer stark genug,
diesen Eindrücken Widerstand zu leisten. Er schildert zuweilen das Abscheuliche,
das Entsetzliche mit sichtlichem Behagen, weil ihn die dramatische Form besticht,
und das moralische Urtheil hinkt trübselig nach. Thiers legt kein geringes
Gewicht darauf, daß er sich durch die augenblicklichen Machthaber, unter denen
er schrieb, nicht habe bestimmen lassen, seine Principien zu ändern, und das
>se insofern richtig, als man ihm keine wissentliche Nachgiebigkeit vorwerfen
kann. Allein der Einfluß der Zeit hat sich ohne sein Wissen doch recht stark
geltend gemacht.

Daß den leitenden Faden des ganzen Werks die Verherrlichung Napo¬
leons bildet, wird bei einem französischen Schriftsteller jeder in Ordnung
finden, der Sinn für wahre Größe hat. Es ist zudem nicht der blinde En¬
thusiasmus, der damals sowol in den Kreisen der populären als der philo¬
sophischen Literatur aus Napoleon einen mythischen Helden machte, sondern
die gebildete Bewunderung eines Kenners, den seine Quellen in den Stand
gesetzt haben, in die geheime Werkstätte seiner Gedanken einzudringen. Man
findet in dem ganzen Werke fast kein eigentliches Porträt des Helden. Thiers
begnügt sich, ihn in seiner Action sich selbst malen zu lassen. Einige Male


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so werden wir in dieser Beziehung dem Franzosen nnbedinqt den Vorzug geben
müssen, so vielen Verdruß uns auch seine Ansichten machen, und so weit er
an Tiefblick namentlich hinter dem letztern zurückbleibt. Die Franzosen sind geborne
Erzähler, und darum fällt es Thiers sehr leicht, den künstlerischen Theil als
die Nebensache zu bezeichnen, denn wer von Natur so erzählt, wie er erzählen
soll, bedarf der Kunst freilich nicht. Dagegen sollten unsere Geschichtschreiber
grade diesen Theil ihres Handwerks viel sorgfältiger ins Auge fassen, als ge¬
wöhnlich geschieht. — Was den historischen Stil betrifft, so stellt Thiers die
sehr richtige Anforderung, man solle an ihn gar nicht erinnert werden. Die
Geschichte soll ein klarer durchsichtiger Spiegel sein, der nichts als die Gegen¬
stände zeigt und diese in dem richtigen Licht. — In Beziehung auf das Ur¬
theil fordert Thiers jene Billigkeit, die sich stets daran erinnert, wie viele
Nebenumstände bei dem einzelnen Fall mitwirken. Gewiß wird man im All¬
gemeinen dieser Forderung beipflichten, denn die moralische Pedanterie, die an
alle einzelne Fälle denselben Maßstab legt, jene gellertsche Spießbürgern, die
den ehrlichen Reitknecht höher stellt, als den siegreichen Helden, weil man
ihm weniger zur Last legen kann, eignet sich am wenigsten für die Geschicht¬
schreibung; aber es kommt darauf an, die richtige Grenze zu finden, und diese
hat Thiers nicht immer eingehalten. Zwar protestirt er dagegen, daß man
diese Objektivität mit Gleichgiltigkeit in Bezug auf die moralische» Fragen ver¬
wechseln dürfe; allein es ist bei ihm zuweilen in der That der Fall. Seine
lebhafte Phantasie und sein scharf eindringender Verstand macht sich zuweilen
zum Herrn über ihn, und seine sittliche Integrität ist nicht immer stark genug,
diesen Eindrücken Widerstand zu leisten. Er schildert zuweilen das Abscheuliche,
das Entsetzliche mit sichtlichem Behagen, weil ihn die dramatische Form besticht,
und das moralische Urtheil hinkt trübselig nach. Thiers legt kein geringes
Gewicht darauf, daß er sich durch die augenblicklichen Machthaber, unter denen
er schrieb, nicht habe bestimmen lassen, seine Principien zu ändern, und das
>se insofern richtig, als man ihm keine wissentliche Nachgiebigkeit vorwerfen
kann. Allein der Einfluß der Zeit hat sich ohne sein Wissen doch recht stark
geltend gemacht.

Daß den leitenden Faden des ganzen Werks die Verherrlichung Napo¬
leons bildet, wird bei einem französischen Schriftsteller jeder in Ordnung
finden, der Sinn für wahre Größe hat. Es ist zudem nicht der blinde En¬
thusiasmus, der damals sowol in den Kreisen der populären als der philo¬
sophischen Literatur aus Napoleon einen mythischen Helden machte, sondern
die gebildete Bewunderung eines Kenners, den seine Quellen in den Stand
gesetzt haben, in die geheime Werkstätte seiner Gedanken einzudringen. Man
findet in dem ganzen Werke fast kein eigentliches Porträt des Helden. Thiers
begnügt sich, ihn in seiner Action sich selbst malen zu lassen. Einige Male


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/227>, abgerufen am 22.12.2024.