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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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"Ich hatte immer," fährt Thiers fort "eine große Vorliebe, bis auf den
Grund zu untersuchen, wie man es bei einer sehr aufgeregten Zeit gemacht
hatte, um so viel Menschen, Geld und Material in Bewegung zu setzen.
Die Geheimnisse der Verwaltung, der Finanzen, des Krieges und der Diplo¬
matie haben mich angezogen und gefesselt, und ich bin überzeugt, daß dieser
rein technische Theil der Geschichte bei ernsthaften Männern wenigstens eben¬
soviel Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen muß, als der dramatische Theil.
Die Begeisterung für große Thaten bleibt eine eitle Declamation, wenn sie
nicht auf einer ausführlichen, positiven und klaren Analyse der Art und Weise
beruhen, wie diese Thaten ausgeführt sind."

Die Deklamationen über die Erhebung und Befreiung des Geistes durch
allseitiges historisches Wissen übergehen wir hier, weil sie auf Thiers keine
Anwendung finden. Er lebt nur in der Zeit, die er schildert, im Uebrigen
ist seine allgemeine historische Durchbildung sehr unbedeutend und ganz nach
französischem Maßstab zugeschnitten. Es ist indeß die Frage, ob diese einseitige
Bildung für die Darstellung einer bestimmten Zeit ein unbedingter Nachtheil
ist. Sie wird es jevcnsallS nur, wenn sie sich selbst täuscht, wenn der Ge¬
schichtschreiber Parallelen zieht, die auf unrichtig aufgefaßten Thatsachen be¬
ruhen, und Zustände beurtheilt, die ihm unbekannt sind.

Indem er nun die Frage ausstellt, welche Eigenschaft am meisten zu
einem guten Geschichtschreiber befähigt, findet er, daß alle andern Gaben durch
die "Intelligenz" ersetzt werden. Nach der weiter" Ausführung ergibt es sich,
daß er darunter einen schnellen, klaren und sichern Blick in die Dinge versteht.
Diesen Blick haben die Franzosen in der That in einem hohen Grade, und
waS unmittelbar damit zusammenhängt, sie wissen sich auch praktisch schnell
in die Dinge zu finden und sie zurecht zu legen. Freilich sind sie zu'unruhig
und zu hastig, um etwas Dauerndes zu schaffen, was eine unausgesetzte auf¬
opfernde, für den Augenblick wenig belohnende Thätigkeit voraussetzt. Dafür
gelingt es ihnen aber schneller als irgend einer andern Nation, dem Bestehenden
eine gewisse gefällige Fac/on zu geben, mit der man vorläufig zufrieden sein
kann. Das haben sie bei jeder Revolution, c>as haben ihre Soldaten noch
neuerdings bei Sebastvpol gezeigt, und das erkennen wir fast bei jedem histo¬
rischen Werke der Franzosen. In der vorbereitenden Kritik sind sie zuweilen
ungenau und unvollständig, aber sie machen sich sehr genau die Fragen deut¬
lich, die sie an die Geschichte zu stellen haben, sie ordnen dieselben ohne alle
Anstrengung in einer logischen Folge, und so gestaltet sich jede neuerworbene
Erkenntniß bei ihnen sofort zu einem Bild, das man in allen Theilen klar
übersieht, und dessen wesentliche Züge bestimmt hervortreten. Vergleichen wir
z. B. die deutschen Geschichtschreiber, und zwar die bessern, welche diese Zeit
behandeln, z. B. Hauffer, zum Theil auch Sybel, mit dem Werk von Thiers,


„Ich hatte immer," fährt Thiers fort „eine große Vorliebe, bis auf den
Grund zu untersuchen, wie man es bei einer sehr aufgeregten Zeit gemacht
hatte, um so viel Menschen, Geld und Material in Bewegung zu setzen.
Die Geheimnisse der Verwaltung, der Finanzen, des Krieges und der Diplo¬
matie haben mich angezogen und gefesselt, und ich bin überzeugt, daß dieser
rein technische Theil der Geschichte bei ernsthaften Männern wenigstens eben¬
soviel Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen muß, als der dramatische Theil.
Die Begeisterung für große Thaten bleibt eine eitle Declamation, wenn sie
nicht auf einer ausführlichen, positiven und klaren Analyse der Art und Weise
beruhen, wie diese Thaten ausgeführt sind."

Die Deklamationen über die Erhebung und Befreiung des Geistes durch
allseitiges historisches Wissen übergehen wir hier, weil sie auf Thiers keine
Anwendung finden. Er lebt nur in der Zeit, die er schildert, im Uebrigen
ist seine allgemeine historische Durchbildung sehr unbedeutend und ganz nach
französischem Maßstab zugeschnitten. Es ist indeß die Frage, ob diese einseitige
Bildung für die Darstellung einer bestimmten Zeit ein unbedingter Nachtheil
ist. Sie wird es jevcnsallS nur, wenn sie sich selbst täuscht, wenn der Ge¬
schichtschreiber Parallelen zieht, die auf unrichtig aufgefaßten Thatsachen be¬
ruhen, und Zustände beurtheilt, die ihm unbekannt sind.

Indem er nun die Frage ausstellt, welche Eigenschaft am meisten zu
einem guten Geschichtschreiber befähigt, findet er, daß alle andern Gaben durch
die „Intelligenz" ersetzt werden. Nach der weiter» Ausführung ergibt es sich,
daß er darunter einen schnellen, klaren und sichern Blick in die Dinge versteht.
Diesen Blick haben die Franzosen in der That in einem hohen Grade, und
waS unmittelbar damit zusammenhängt, sie wissen sich auch praktisch schnell
in die Dinge zu finden und sie zurecht zu legen. Freilich sind sie zu'unruhig
und zu hastig, um etwas Dauerndes zu schaffen, was eine unausgesetzte auf¬
opfernde, für den Augenblick wenig belohnende Thätigkeit voraussetzt. Dafür
gelingt es ihnen aber schneller als irgend einer andern Nation, dem Bestehenden
eine gewisse gefällige Fac/on zu geben, mit der man vorläufig zufrieden sein
kann. Das haben sie bei jeder Revolution, c>as haben ihre Soldaten noch
neuerdings bei Sebastvpol gezeigt, und das erkennen wir fast bei jedem histo¬
rischen Werke der Franzosen. In der vorbereitenden Kritik sind sie zuweilen
ungenau und unvollständig, aber sie machen sich sehr genau die Fragen deut¬
lich, die sie an die Geschichte zu stellen haben, sie ordnen dieselben ohne alle
Anstrengung in einer logischen Folge, und so gestaltet sich jede neuerworbene
Erkenntniß bei ihnen sofort zu einem Bild, das man in allen Theilen klar
übersieht, und dessen wesentliche Züge bestimmt hervortreten. Vergleichen wir
z. B. die deutschen Geschichtschreiber, und zwar die bessern, welche diese Zeit
behandeln, z. B. Hauffer, zum Theil auch Sybel, mit dem Werk von Thiers,


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[0226] „Ich hatte immer," fährt Thiers fort „eine große Vorliebe, bis auf den Grund zu untersuchen, wie man es bei einer sehr aufgeregten Zeit gemacht hatte, um so viel Menschen, Geld und Material in Bewegung zu setzen. Die Geheimnisse der Verwaltung, der Finanzen, des Krieges und der Diplo¬ matie haben mich angezogen und gefesselt, und ich bin überzeugt, daß dieser rein technische Theil der Geschichte bei ernsthaften Männern wenigstens eben¬ soviel Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen muß, als der dramatische Theil. Die Begeisterung für große Thaten bleibt eine eitle Declamation, wenn sie nicht auf einer ausführlichen, positiven und klaren Analyse der Art und Weise beruhen, wie diese Thaten ausgeführt sind." Die Deklamationen über die Erhebung und Befreiung des Geistes durch allseitiges historisches Wissen übergehen wir hier, weil sie auf Thiers keine Anwendung finden. Er lebt nur in der Zeit, die er schildert, im Uebrigen ist seine allgemeine historische Durchbildung sehr unbedeutend und ganz nach französischem Maßstab zugeschnitten. Es ist indeß die Frage, ob diese einseitige Bildung für die Darstellung einer bestimmten Zeit ein unbedingter Nachtheil ist. Sie wird es jevcnsallS nur, wenn sie sich selbst täuscht, wenn der Ge¬ schichtschreiber Parallelen zieht, die auf unrichtig aufgefaßten Thatsachen be¬ ruhen, und Zustände beurtheilt, die ihm unbekannt sind. Indem er nun die Frage ausstellt, welche Eigenschaft am meisten zu einem guten Geschichtschreiber befähigt, findet er, daß alle andern Gaben durch die „Intelligenz" ersetzt werden. Nach der weiter» Ausführung ergibt es sich, daß er darunter einen schnellen, klaren und sichern Blick in die Dinge versteht. Diesen Blick haben die Franzosen in der That in einem hohen Grade, und waS unmittelbar damit zusammenhängt, sie wissen sich auch praktisch schnell in die Dinge zu finden und sie zurecht zu legen. Freilich sind sie zu'unruhig und zu hastig, um etwas Dauerndes zu schaffen, was eine unausgesetzte auf¬ opfernde, für den Augenblick wenig belohnende Thätigkeit voraussetzt. Dafür gelingt es ihnen aber schneller als irgend einer andern Nation, dem Bestehenden eine gewisse gefällige Fac/on zu geben, mit der man vorläufig zufrieden sein kann. Das haben sie bei jeder Revolution, c>as haben ihre Soldaten noch neuerdings bei Sebastvpol gezeigt, und das erkennen wir fast bei jedem histo¬ rischen Werke der Franzosen. In der vorbereitenden Kritik sind sie zuweilen ungenau und unvollständig, aber sie machen sich sehr genau die Fragen deut¬ lich, die sie an die Geschichte zu stellen haben, sie ordnen dieselben ohne alle Anstrengung in einer logischen Folge, und so gestaltet sich jede neuerworbene Erkenntniß bei ihnen sofort zu einem Bild, das man in allen Theilen klar übersieht, und dessen wesentliche Züge bestimmt hervortreten. Vergleichen wir z. B. die deutschen Geschichtschreiber, und zwar die bessern, welche diese Zeit behandeln, z. B. Hauffer, zum Theil auch Sybel, mit dem Werk von Thiers,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/226>, abgerufen am 23.07.2024.