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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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blick in der Masse. Aber kaum war die konservative Partei wieder organisirt,
so stand Thiers, der offen die Fahne des Orleanismus aufpflanzte, wieder an
ihrer Spitze. So viel man auch gegen seine frühere politische Haltung ein¬
zuwenden hatte, es konnte niemand verkennen, daß er in dieser drängenden
Lage unter allen Mitgliedern der Nationalversammlung den klarsten, gesundesten
Menschenverstand entwickelte. Freilich zeigre sich Verselbe mehr in seinem Ur¬
theil als in seiner Handlungsweise, und wenn er früher als einer seiner Colle¬
ge" die Pläne des künftigen Kaisers durchschaute, so half er doch, sie fördern,
indem er die conservative Partei und die ganze Nationalversammlung zu einer
so schroffen Haltung veranlaßte, daß sie im Volk keine Stütze fand und ohne
Gefahr beseitigt werden konnte. Doch war sein Ansehn "och so groß, daß er
außer den gefürchteten Generalen der einzige war, den der Staatsstreich per¬
sönlich berücksichtigte. -- Als Redner gehört er unzweifelhaft zu den bedeutendsten
der Nationalversammlung, wobei man freilich in Anschlag bringen muß, daß
er ein Franzose ist. Drei Vorzüge, die man in England nicht so hoch schätzen
würde, gaben ihm hier seine Bedeutung: einmal besitzt er das, was die Fran¬
zosen Logik nennen, in der höchsten Vollkommenheit, das heißt, er weiß die
Thatsachen und Ideen so in Reihe und Glied zu stellen, daß der Schluß, den
er machen will, wie von selbst hervorspringt, und daß man die Klarheit seiner
Gesichtspunkte bewundert, auch wo man ihm principiell entgegentritt; sodann
ist er von einer unglaublichen Elasticität in dem Auffinden von Thatsachen,
die dazu vieren, für irgend eine Ansicht Vas ar^umentuiu an nomiuem zu
bilden, eine Waffe, die bei den Franzosen entscheidend ist,'denn sie besticht
den sogenannten gesunden Menschenverstand. Den eigentlichen vsprit, v. h.
die Anwendung deS Witzes um seiner selbst willen, verschmäht er durchaus;
er ist bei seinen Reden durchweg praktisch, und wenn man vie sehr schnell
gesprochenen'Worte ruhig liest, so machen sie zuweilen Ver Einvruck ver Tri¬
vialität. Er vermeidet envlich alles, was ins Lächerliche gezogen werben kann.
Er wird nie pathetisch, nie gefühlvoll, und dabei kommt ihm sein vollairesches
Naturell zu Hilfe. Es gehört dazu nicht blos der scharfe Verstand, nicht
blos vie ironische Grunvstimmung, sondern auch jene Anmuth des Geistes, die
selbst den Gegner besticht. Von dieser Anmuth hat auch Lamartine etwas,
der sonst mit seinem ewig überströmenden Gefühl und mit seinen Declamationen
in allen Beziehungen sein Gegentheil ist. Sie fehlt Vagegen Guizot, ver pures
die harte Form seines Verstanves und d.urch das scharf hervorgehobene Gewicht
seiner bessern Einsicht auch da beleidigt, wo er überzeugt.

Hatte man seine Geschichte ver Revolution gewissermaßen als Vorarbeit
für seine spätere politische Wirksamkeit betrachten können, so steht dagegen sei"
Wirken als Deputirter uno Minister beinahe so aus wie eine großartige Vor¬
studie zu der Schrift, die ihn unsterblich machen wird, zu der Geschichte deS


blick in der Masse. Aber kaum war die konservative Partei wieder organisirt,
so stand Thiers, der offen die Fahne des Orleanismus aufpflanzte, wieder an
ihrer Spitze. So viel man auch gegen seine frühere politische Haltung ein¬
zuwenden hatte, es konnte niemand verkennen, daß er in dieser drängenden
Lage unter allen Mitgliedern der Nationalversammlung den klarsten, gesundesten
Menschenverstand entwickelte. Freilich zeigre sich Verselbe mehr in seinem Ur¬
theil als in seiner Handlungsweise, und wenn er früher als einer seiner Colle¬
ge» die Pläne des künftigen Kaisers durchschaute, so half er doch, sie fördern,
indem er die conservative Partei und die ganze Nationalversammlung zu einer
so schroffen Haltung veranlaßte, daß sie im Volk keine Stütze fand und ohne
Gefahr beseitigt werden konnte. Doch war sein Ansehn »och so groß, daß er
außer den gefürchteten Generalen der einzige war, den der Staatsstreich per¬
sönlich berücksichtigte. — Als Redner gehört er unzweifelhaft zu den bedeutendsten
der Nationalversammlung, wobei man freilich in Anschlag bringen muß, daß
er ein Franzose ist. Drei Vorzüge, die man in England nicht so hoch schätzen
würde, gaben ihm hier seine Bedeutung: einmal besitzt er das, was die Fran¬
zosen Logik nennen, in der höchsten Vollkommenheit, das heißt, er weiß die
Thatsachen und Ideen so in Reihe und Glied zu stellen, daß der Schluß, den
er machen will, wie von selbst hervorspringt, und daß man die Klarheit seiner
Gesichtspunkte bewundert, auch wo man ihm principiell entgegentritt; sodann
ist er von einer unglaublichen Elasticität in dem Auffinden von Thatsachen,
die dazu vieren, für irgend eine Ansicht Vas ar^umentuiu an nomiuem zu
bilden, eine Waffe, die bei den Franzosen entscheidend ist,'denn sie besticht
den sogenannten gesunden Menschenverstand. Den eigentlichen vsprit, v. h.
die Anwendung deS Witzes um seiner selbst willen, verschmäht er durchaus;
er ist bei seinen Reden durchweg praktisch, und wenn man vie sehr schnell
gesprochenen'Worte ruhig liest, so machen sie zuweilen Ver Einvruck ver Tri¬
vialität. Er vermeidet envlich alles, was ins Lächerliche gezogen werben kann.
Er wird nie pathetisch, nie gefühlvoll, und dabei kommt ihm sein vollairesches
Naturell zu Hilfe. Es gehört dazu nicht blos der scharfe Verstand, nicht
blos vie ironische Grunvstimmung, sondern auch jene Anmuth des Geistes, die
selbst den Gegner besticht. Von dieser Anmuth hat auch Lamartine etwas,
der sonst mit seinem ewig überströmenden Gefühl und mit seinen Declamationen
in allen Beziehungen sein Gegentheil ist. Sie fehlt Vagegen Guizot, ver pures
die harte Form seines Verstanves und d.urch das scharf hervorgehobene Gewicht
seiner bessern Einsicht auch da beleidigt, wo er überzeugt.

Hatte man seine Geschichte ver Revolution gewissermaßen als Vorarbeit
für seine spätere politische Wirksamkeit betrachten können, so steht dagegen sei»
Wirken als Deputirter uno Minister beinahe so aus wie eine großartige Vor¬
studie zu der Schrift, die ihn unsterblich machen wird, zu der Geschichte deS


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/224>, abgerufen am 22.12.2024.