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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Augen fallend, daß sie sich nur aus dem Bestreben erklären lassen, Gesänge,
die auf verschiedenen Voraussetzungen beruhten, miteinander zu verbinden.
So wird z. B. im siebenten Buch der Ilias die Mauer, die daS ganze
griechische Lager umzieht, nebst dem dazu gehörigen Graben in einem Tage
fertig, offenbar ein späterer Zusatz, um die folgenden Gesänge, in denen eine
Mauer vorkommt, mit den ersten sieben, in denen keine Spur davon ist, in
Einklang zu bringen. Von andern kaum minder großen UnWahrscheinlichkeiten
gestand jedoch selbst Lachmann, der Dichter habe sie sich erlauben dürfen, weil
es die Oekonomie des Gedichts verlangt hätte, z. B. läßt sich Priamus im
zehnten^ Jahr der Belagerung von Troja von Helena die hervorragendsten
griechischen Helden nennen, die er doch viel genauer hätte kennen sollen, als
für ihn wünschenswert!) war. Während nun aber bei diesen beiden Beispielen
die Kritiker aller Farben im Ganzen übereinstimmen, daß die erste eine uner¬
laubte, die zweite eine erlaubte sei, können sie sich in hundert andern Fällen
nicht einigen.

Merkwürdig ist übrigens, daß Napoleon nicht nur bei der Angabe der
Zeit für den Brand von Karrhago, sondern auch für den von Moskau geirrt
hat. Die Zahl der Tage, welche der erstere dauerte, kann nicht genau ermittelt
werden, der letztere aber fing in der Nacht vom 1i. auf den 13. September
an und hörte den 20. auf.

Wenn die Schilderung der Eroberung von Troja nicht nach strategischen
Principien beurtheilt werden darf, so zeigen Napoleons Bemerkungen über das
hölzerne Pferd noch schlagender die Unstatthaftigkeit seiner Kritik. "Das hölzerne
Pferd," sagt er, "mag eine Volkssage gewesen sein, aber diese Sage ist lächerlich
und eines epischen Gedichts ganz unwürdig. Nichts Aehnliches kommt in der
Jliade vor, wo alles der Wirklichkeit und den Gesetzen des Krieges angemessen
ist. Wie kann mun annehmen, daß die Trojaner so einfältig gewesen sein
werden, nicht einmal ein Fischerboot nach der Insel Tenedos zu schicken, um
zu ermitteln, ob die 1000 Schiffe der Griechen dort geblieben waren, oder
sich wirklich entfernt hatten? Aber in der That konnte der Ankerplatz von
Tenedos von der Spitze der Thürme von Troja gesehn werden. Wie kann
man glauben, daß Ulysses und die ausgewählten Leute der Griechen so sinnlos
gewesen sein sollten, sich selbst in das hölzerne Pferd einzuschließen, das heißt,
sich mit gebundenen Händen und Füßen ihren unversöhnlichen Feinden zu
überliefern? Angenommen, daß das Pferd nur 100 Krieger enthielt, so muß
sein Gewicht enorm gewesen sein, und es ist nicht wahrscheinlich, daß es selbst
von dem Seestrande bis zu den Mauern von Troja in einem Tage gebracht
werden konnte, besonders da es über zwei Flüsse geschafft werden mußte."

"Die ganze Episode von Simon ist unwahrscheinlich und absurd; der Auf¬
wand von Talent, den Virgil macht, und die Schönheit der Rede die er ihm


Augen fallend, daß sie sich nur aus dem Bestreben erklären lassen, Gesänge,
die auf verschiedenen Voraussetzungen beruhten, miteinander zu verbinden.
So wird z. B. im siebenten Buch der Ilias die Mauer, die daS ganze
griechische Lager umzieht, nebst dem dazu gehörigen Graben in einem Tage
fertig, offenbar ein späterer Zusatz, um die folgenden Gesänge, in denen eine
Mauer vorkommt, mit den ersten sieben, in denen keine Spur davon ist, in
Einklang zu bringen. Von andern kaum minder großen UnWahrscheinlichkeiten
gestand jedoch selbst Lachmann, der Dichter habe sie sich erlauben dürfen, weil
es die Oekonomie des Gedichts verlangt hätte, z. B. läßt sich Priamus im
zehnten^ Jahr der Belagerung von Troja von Helena die hervorragendsten
griechischen Helden nennen, die er doch viel genauer hätte kennen sollen, als
für ihn wünschenswert!) war. Während nun aber bei diesen beiden Beispielen
die Kritiker aller Farben im Ganzen übereinstimmen, daß die erste eine uner¬
laubte, die zweite eine erlaubte sei, können sie sich in hundert andern Fällen
nicht einigen.

Merkwürdig ist übrigens, daß Napoleon nicht nur bei der Angabe der
Zeit für den Brand von Karrhago, sondern auch für den von Moskau geirrt
hat. Die Zahl der Tage, welche der erstere dauerte, kann nicht genau ermittelt
werden, der letztere aber fing in der Nacht vom 1i. auf den 13. September
an und hörte den 20. auf.

Wenn die Schilderung der Eroberung von Troja nicht nach strategischen
Principien beurtheilt werden darf, so zeigen Napoleons Bemerkungen über das
hölzerne Pferd noch schlagender die Unstatthaftigkeit seiner Kritik. „Das hölzerne
Pferd," sagt er, „mag eine Volkssage gewesen sein, aber diese Sage ist lächerlich
und eines epischen Gedichts ganz unwürdig. Nichts Aehnliches kommt in der
Jliade vor, wo alles der Wirklichkeit und den Gesetzen des Krieges angemessen
ist. Wie kann mun annehmen, daß die Trojaner so einfältig gewesen sein
werden, nicht einmal ein Fischerboot nach der Insel Tenedos zu schicken, um
zu ermitteln, ob die 1000 Schiffe der Griechen dort geblieben waren, oder
sich wirklich entfernt hatten? Aber in der That konnte der Ankerplatz von
Tenedos von der Spitze der Thürme von Troja gesehn werden. Wie kann
man glauben, daß Ulysses und die ausgewählten Leute der Griechen so sinnlos
gewesen sein sollten, sich selbst in das hölzerne Pferd einzuschließen, das heißt,
sich mit gebundenen Händen und Füßen ihren unversöhnlichen Feinden zu
überliefern? Angenommen, daß das Pferd nur 100 Krieger enthielt, so muß
sein Gewicht enorm gewesen sein, und es ist nicht wahrscheinlich, daß es selbst
von dem Seestrande bis zu den Mauern von Troja in einem Tage gebracht
werden konnte, besonders da es über zwei Flüsse geschafft werden mußte."

„Die ganze Episode von Simon ist unwahrscheinlich und absurd; der Auf¬
wand von Talent, den Virgil macht, und die Schönheit der Rede die er ihm


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[0180] Augen fallend, daß sie sich nur aus dem Bestreben erklären lassen, Gesänge, die auf verschiedenen Voraussetzungen beruhten, miteinander zu verbinden. So wird z. B. im siebenten Buch der Ilias die Mauer, die daS ganze griechische Lager umzieht, nebst dem dazu gehörigen Graben in einem Tage fertig, offenbar ein späterer Zusatz, um die folgenden Gesänge, in denen eine Mauer vorkommt, mit den ersten sieben, in denen keine Spur davon ist, in Einklang zu bringen. Von andern kaum minder großen UnWahrscheinlichkeiten gestand jedoch selbst Lachmann, der Dichter habe sie sich erlauben dürfen, weil es die Oekonomie des Gedichts verlangt hätte, z. B. läßt sich Priamus im zehnten^ Jahr der Belagerung von Troja von Helena die hervorragendsten griechischen Helden nennen, die er doch viel genauer hätte kennen sollen, als für ihn wünschenswert!) war. Während nun aber bei diesen beiden Beispielen die Kritiker aller Farben im Ganzen übereinstimmen, daß die erste eine uner¬ laubte, die zweite eine erlaubte sei, können sie sich in hundert andern Fällen nicht einigen. Merkwürdig ist übrigens, daß Napoleon nicht nur bei der Angabe der Zeit für den Brand von Karrhago, sondern auch für den von Moskau geirrt hat. Die Zahl der Tage, welche der erstere dauerte, kann nicht genau ermittelt werden, der letztere aber fing in der Nacht vom 1i. auf den 13. September an und hörte den 20. auf. Wenn die Schilderung der Eroberung von Troja nicht nach strategischen Principien beurtheilt werden darf, so zeigen Napoleons Bemerkungen über das hölzerne Pferd noch schlagender die Unstatthaftigkeit seiner Kritik. „Das hölzerne Pferd," sagt er, „mag eine Volkssage gewesen sein, aber diese Sage ist lächerlich und eines epischen Gedichts ganz unwürdig. Nichts Aehnliches kommt in der Jliade vor, wo alles der Wirklichkeit und den Gesetzen des Krieges angemessen ist. Wie kann mun annehmen, daß die Trojaner so einfältig gewesen sein werden, nicht einmal ein Fischerboot nach der Insel Tenedos zu schicken, um zu ermitteln, ob die 1000 Schiffe der Griechen dort geblieben waren, oder sich wirklich entfernt hatten? Aber in der That konnte der Ankerplatz von Tenedos von der Spitze der Thürme von Troja gesehn werden. Wie kann man glauben, daß Ulysses und die ausgewählten Leute der Griechen so sinnlos gewesen sein sollten, sich selbst in das hölzerne Pferd einzuschließen, das heißt, sich mit gebundenen Händen und Füßen ihren unversöhnlichen Feinden zu überliefern? Angenommen, daß das Pferd nur 100 Krieger enthielt, so muß sein Gewicht enorm gewesen sein, und es ist nicht wahrscheinlich, daß es selbst von dem Seestrande bis zu den Mauern von Troja in einem Tage gebracht werden konnte, besonders da es über zwei Flüsse geschafft werden mußte." „Die ganze Episode von Simon ist unwahrscheinlich und absurd; der Auf¬ wand von Talent, den Virgil macht, und die Schönheit der Rede die er ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/180>, abgerufen am 23.07.2024.