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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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die Unmöglichkeit seiner Methode und die Unanwendbarkeit einer solchen Be¬
urtheilung auf eine solche Erzählung zeigen, sind zugleich höchst charakteristisch
für die durchdringende Schärfe, mit welcher dieser große Geist die Gegenstände
seiner Aufmerksamkeit zergliederte.

"Die Krieger," dictirte Napoleon seinem Kammerdiener Marchand^), "die
in dem hölzernen Pferde, das Simon öffnet, eingeschlossen sind, kommen nicht
eher heraus, als bis die griechische Flotte das Heer ans Land gesetzt hat;
diese verläßt aber Tenedos nicht eher, als bis alles schläft und die Nacht
finster ist, also nicht vor ein Uhr Morgens; überdies würde die trojanische Wache
nicht vor dieser Zeit eingeschlafen gewesen sein, so baß Simon die Thür des
hölzernen Pferdes hätte öffnen können. Folglich geht die gänzliche Zerstörung
Trojas, wie sie in diesem Buch beschrieben ist, zwischen ein Uhr und Sonnen-
aufgang vor sich d. h. in drei oder vier Stunden. Dies ist absurd. Um
Troja einzunehmen, zu verbrennen und zu zerstören, waren mindestens vier¬
zehn Tage erforderlich. Troja besaß eine Armee; diese Armee verließ die Stadt
nicht, sie muß sich also in allen Palästen vertheidigt haben. Aeneas, der in
seines Vaters Palast in einem Gehölz eine halbe Lieue von Troja entfernt
wohnt, erfährt die.Einnahme und Verbrennung der Stadt durch Hectors Geist.
Selbst wenn das Haus des Anchises zwei Lieues entfernt gewesen wäre, würde
der Lärm des Getümmels bei der Einnahme der Stadt und die Hitze deö Brandes
Menschen und Thiere erweckt haben. Troja fiel nicht in einer Nacht, besonders
einer so kurzen, und selbst wenn die vertheidigende Armee die Stadt geräumt
hätte, hätte die griechische mehre Tage bedurft, um sie in Besitz zu nehmen
und zu zerstören. Aeneas war nicht der einzige Krieger in Troja, und doch
spricht der Dichter von keinem andern. Die zahlreichen Helden, die in der
Jliade eine so glänzende Rolle spielen, müssen im Stande gewesen sein, jeder
den Bezirk seiner Wohnung zu vertheidigen.

Ein Thurm, dessen Spitze zum Himmel ragte, muß ohne Zweifel von
Stein gebaut gewesen sein; man begreift nicht, wie Aeneas ihn in wenig
Augenblicken und mit der Hilfe einiger eiserner Hebel auf die Köpfe der
Griechen herabstürzen konnte. Hätte Homer die Einnahme Trojas beschrieben,
so würde er sie nicht wie die Einnahme eines Forts behandelt, sondern die
nöthige Zeit verwendet haben d. h. mindestens acht Tage und acht Nächte.
Wenn man die Ilias liest, fühlt man überall, daß Homer den Krieg aus
eigner Erfahrung kannte, und daß er nicht wie seine Commentatoren sagen,
sein Leben in den Schulen von Chios zubrachte: wenn man die Aeneide liest,
fühlt man, daß es das Werk eines Buchgelehrten ist, der das wirkliche Leben
nicht kannte. ES ist unbegreiflich, waS Virgil bewegen konnte, die Einnahme,



*) Aus dem xröllis -ass Zusrres <Zs Lsssr xar Napoleon, came psr N. NsroliÄNiL ä Z'ils
Lsints Ileliins sous Is, äietss as I'owxsrsur. ?"ris -1836. '

die Unmöglichkeit seiner Methode und die Unanwendbarkeit einer solchen Be¬
urtheilung auf eine solche Erzählung zeigen, sind zugleich höchst charakteristisch
für die durchdringende Schärfe, mit welcher dieser große Geist die Gegenstände
seiner Aufmerksamkeit zergliederte.

„Die Krieger," dictirte Napoleon seinem Kammerdiener Marchand^), „die
in dem hölzernen Pferde, das Simon öffnet, eingeschlossen sind, kommen nicht
eher heraus, als bis die griechische Flotte das Heer ans Land gesetzt hat;
diese verläßt aber Tenedos nicht eher, als bis alles schläft und die Nacht
finster ist, also nicht vor ein Uhr Morgens; überdies würde die trojanische Wache
nicht vor dieser Zeit eingeschlafen gewesen sein, so baß Simon die Thür des
hölzernen Pferdes hätte öffnen können. Folglich geht die gänzliche Zerstörung
Trojas, wie sie in diesem Buch beschrieben ist, zwischen ein Uhr und Sonnen-
aufgang vor sich d. h. in drei oder vier Stunden. Dies ist absurd. Um
Troja einzunehmen, zu verbrennen und zu zerstören, waren mindestens vier¬
zehn Tage erforderlich. Troja besaß eine Armee; diese Armee verließ die Stadt
nicht, sie muß sich also in allen Palästen vertheidigt haben. Aeneas, der in
seines Vaters Palast in einem Gehölz eine halbe Lieue von Troja entfernt
wohnt, erfährt die.Einnahme und Verbrennung der Stadt durch Hectors Geist.
Selbst wenn das Haus des Anchises zwei Lieues entfernt gewesen wäre, würde
der Lärm des Getümmels bei der Einnahme der Stadt und die Hitze deö Brandes
Menschen und Thiere erweckt haben. Troja fiel nicht in einer Nacht, besonders
einer so kurzen, und selbst wenn die vertheidigende Armee die Stadt geräumt
hätte, hätte die griechische mehre Tage bedurft, um sie in Besitz zu nehmen
und zu zerstören. Aeneas war nicht der einzige Krieger in Troja, und doch
spricht der Dichter von keinem andern. Die zahlreichen Helden, die in der
Jliade eine so glänzende Rolle spielen, müssen im Stande gewesen sein, jeder
den Bezirk seiner Wohnung zu vertheidigen.

Ein Thurm, dessen Spitze zum Himmel ragte, muß ohne Zweifel von
Stein gebaut gewesen sein; man begreift nicht, wie Aeneas ihn in wenig
Augenblicken und mit der Hilfe einiger eiserner Hebel auf die Köpfe der
Griechen herabstürzen konnte. Hätte Homer die Einnahme Trojas beschrieben,
so würde er sie nicht wie die Einnahme eines Forts behandelt, sondern die
nöthige Zeit verwendet haben d. h. mindestens acht Tage und acht Nächte.
Wenn man die Ilias liest, fühlt man überall, daß Homer den Krieg aus
eigner Erfahrung kannte, und daß er nicht wie seine Commentatoren sagen,
sein Leben in den Schulen von Chios zubrachte: wenn man die Aeneide liest,
fühlt man, daß es das Werk eines Buchgelehrten ist, der das wirkliche Leben
nicht kannte. ES ist unbegreiflich, waS Virgil bewegen konnte, die Einnahme,



*) Aus dem xröllis -ass Zusrres <Zs Lsssr xar Napoleon, came psr N. NsroliÄNiL ä Z'ils
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[0178] die Unmöglichkeit seiner Methode und die Unanwendbarkeit einer solchen Be¬ urtheilung auf eine solche Erzählung zeigen, sind zugleich höchst charakteristisch für die durchdringende Schärfe, mit welcher dieser große Geist die Gegenstände seiner Aufmerksamkeit zergliederte. „Die Krieger," dictirte Napoleon seinem Kammerdiener Marchand^), „die in dem hölzernen Pferde, das Simon öffnet, eingeschlossen sind, kommen nicht eher heraus, als bis die griechische Flotte das Heer ans Land gesetzt hat; diese verläßt aber Tenedos nicht eher, als bis alles schläft und die Nacht finster ist, also nicht vor ein Uhr Morgens; überdies würde die trojanische Wache nicht vor dieser Zeit eingeschlafen gewesen sein, so baß Simon die Thür des hölzernen Pferdes hätte öffnen können. Folglich geht die gänzliche Zerstörung Trojas, wie sie in diesem Buch beschrieben ist, zwischen ein Uhr und Sonnen- aufgang vor sich d. h. in drei oder vier Stunden. Dies ist absurd. Um Troja einzunehmen, zu verbrennen und zu zerstören, waren mindestens vier¬ zehn Tage erforderlich. Troja besaß eine Armee; diese Armee verließ die Stadt nicht, sie muß sich also in allen Palästen vertheidigt haben. Aeneas, der in seines Vaters Palast in einem Gehölz eine halbe Lieue von Troja entfernt wohnt, erfährt die.Einnahme und Verbrennung der Stadt durch Hectors Geist. Selbst wenn das Haus des Anchises zwei Lieues entfernt gewesen wäre, würde der Lärm des Getümmels bei der Einnahme der Stadt und die Hitze deö Brandes Menschen und Thiere erweckt haben. Troja fiel nicht in einer Nacht, besonders einer so kurzen, und selbst wenn die vertheidigende Armee die Stadt geräumt hätte, hätte die griechische mehre Tage bedurft, um sie in Besitz zu nehmen und zu zerstören. Aeneas war nicht der einzige Krieger in Troja, und doch spricht der Dichter von keinem andern. Die zahlreichen Helden, die in der Jliade eine so glänzende Rolle spielen, müssen im Stande gewesen sein, jeder den Bezirk seiner Wohnung zu vertheidigen. Ein Thurm, dessen Spitze zum Himmel ragte, muß ohne Zweifel von Stein gebaut gewesen sein; man begreift nicht, wie Aeneas ihn in wenig Augenblicken und mit der Hilfe einiger eiserner Hebel auf die Köpfe der Griechen herabstürzen konnte. Hätte Homer die Einnahme Trojas beschrieben, so würde er sie nicht wie die Einnahme eines Forts behandelt, sondern die nöthige Zeit verwendet haben d. h. mindestens acht Tage und acht Nächte. Wenn man die Ilias liest, fühlt man überall, daß Homer den Krieg aus eigner Erfahrung kannte, und daß er nicht wie seine Commentatoren sagen, sein Leben in den Schulen von Chios zubrachte: wenn man die Aeneide liest, fühlt man, daß es das Werk eines Buchgelehrten ist, der das wirkliche Leben nicht kannte. ES ist unbegreiflich, waS Virgil bewegen konnte, die Einnahme, *) Aus dem xröllis -ass Zusrres <Zs Lsssr xar Napoleon, came psr N. NsroliÄNiL ä Z'ils Lsints Ileliins sous Is, äietss as I'owxsrsur. ?»ris -1836. '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/178>, abgerufen am 23.07.2024.