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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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ten, wenn auch vieles, so könne doch nicht alles erfunden sein. Grote hat
richtig vorausgesehn, daß seine Behandlung der griechischen Sagengeschichte das
Mißvergnügen vieler Leser erregen werde: sowol ein englischer als ein deutscher
Recensent haben getadelt, daß er die Nothwendigkeit einer thatsächlichen Basis
der Mythen in Abrede gestellt hat. Daß sie eine thatsächliche Basis haben
können, hat er nirgend geleugnet; aber wol, daß der etwaige factische In¬
halt von uns ermittelt werden kann, da wir nicht im Stande sind, ihn von
der Dichtung zu sondern, mit der er innig verknüpft ist.

Unter den Erzählungen der griechischen Sage, die von jeher nur als aus¬
geschmückte Geschichte ""gesehn worden sind und es noch heute werden, nimmt
der trojanische Krieg die erste Stelle ein, der noch immer in unsern chronolo¬
gischen Tabellen als eine stattliche Ausfüllung des fernen Jahrzehnts von 1-197
bis -1187 vor Christus prangt. Aber für die rationelle Kritik ist auch er nur
eine Sage und nichts weiter. Ob diese Sage auf einem wirklichen Factum,
einer wirklichen Erpedition von Griechen gegen Asiaten beruht oder nicht, das
können wir hier, wie in jedem andern ähnlichen Fall, weder bejahen noch ver¬
neinen. Die Sage ist unsre einzige Berichterstatterin. Wir versagen ihr den
Glauben für den interessantesten Theil ihrer Erzählung; wir glauben nicht,
daß die schöne Helena die Ursache des Krieges war -- schon Herodot war
überzeugt, daß sie nicht in Trojas Mauern gewesen sei, weil ja die Trojaner
und Priamus hätten verrückt sein müssen, hätten sie sie nicht ausgeliefert
^ noch an die Hilfe der Amazonen, noch an den Sohn der Eos, noch
an das hölzerne Pferd. Wollen wir also consequent sein, so dürfen wir eben¬
sowenig das Uebrige auf daS Zeugniß der Sage allein glauben, und ein andres
gibt es nicht. Die Möglichkeit eines Krieges, aus dem sie entsprungen sein
könnte, kann nicht geleugnet, aber die Gewißheit ebensowenig behauptet werden.

Jeder Versuch, eine sagenhafte Ueberlieferung als geschichtliches Factum
Zu behandeln, deckt sogleich eine Menge von Widersprüchen und Unmöglich¬
keiten ans. Die Sage kehrt sich bei ihren Erfindungen nie an die Gesetze der
Wirklichkeit, sie fragt weder nach den Schranken der Zeit noch des Raums.
Legt man also den Maßstab realer Voraussetzungen an ihre Erzählungen, so
erscheint als ein monströses Durcheinander wunderlich gestalteter Trümmern,
was in der Ferne und in ungewissem Dämmerlicht betrachtet ein glänzendes,
imposantes, farbenprangendes Gebäude war. Die historische Kritik einer Sage
ober eines Gedichts, daS die Sage zum Gegenstand hat, ist ebenso widersinnig
wie die Betrachtung einer auf Fernwirkung berechneten Farbenskizze durch das
Mikroskop.

Diese Widersinnigkeit hat sich Napoleon zu schulde" kommen lassen, als
er in seiner unfreiwilligen Muße zu Se. Helena sich herabließ, das zweite
Buch der virgilischen Aeneide zu tntisiren, und seine Bemerkungen, so sehr sie


Grenzboten. I. -I8Ü7. 22

ten, wenn auch vieles, so könne doch nicht alles erfunden sein. Grote hat
richtig vorausgesehn, daß seine Behandlung der griechischen Sagengeschichte das
Mißvergnügen vieler Leser erregen werde: sowol ein englischer als ein deutscher
Recensent haben getadelt, daß er die Nothwendigkeit einer thatsächlichen Basis
der Mythen in Abrede gestellt hat. Daß sie eine thatsächliche Basis haben
können, hat er nirgend geleugnet; aber wol, daß der etwaige factische In¬
halt von uns ermittelt werden kann, da wir nicht im Stande sind, ihn von
der Dichtung zu sondern, mit der er innig verknüpft ist.

Unter den Erzählungen der griechischen Sage, die von jeher nur als aus¬
geschmückte Geschichte «»gesehn worden sind und es noch heute werden, nimmt
der trojanische Krieg die erste Stelle ein, der noch immer in unsern chronolo¬
gischen Tabellen als eine stattliche Ausfüllung des fernen Jahrzehnts von 1-197
bis -1187 vor Christus prangt. Aber für die rationelle Kritik ist auch er nur
eine Sage und nichts weiter. Ob diese Sage auf einem wirklichen Factum,
einer wirklichen Erpedition von Griechen gegen Asiaten beruht oder nicht, das
können wir hier, wie in jedem andern ähnlichen Fall, weder bejahen noch ver¬
neinen. Die Sage ist unsre einzige Berichterstatterin. Wir versagen ihr den
Glauben für den interessantesten Theil ihrer Erzählung; wir glauben nicht,
daß die schöne Helena die Ursache des Krieges war — schon Herodot war
überzeugt, daß sie nicht in Trojas Mauern gewesen sei, weil ja die Trojaner
und Priamus hätten verrückt sein müssen, hätten sie sie nicht ausgeliefert
^ noch an die Hilfe der Amazonen, noch an den Sohn der Eos, noch
an das hölzerne Pferd. Wollen wir also consequent sein, so dürfen wir eben¬
sowenig das Uebrige auf daS Zeugniß der Sage allein glauben, und ein andres
gibt es nicht. Die Möglichkeit eines Krieges, aus dem sie entsprungen sein
könnte, kann nicht geleugnet, aber die Gewißheit ebensowenig behauptet werden.

Jeder Versuch, eine sagenhafte Ueberlieferung als geschichtliches Factum
Zu behandeln, deckt sogleich eine Menge von Widersprüchen und Unmöglich¬
keiten ans. Die Sage kehrt sich bei ihren Erfindungen nie an die Gesetze der
Wirklichkeit, sie fragt weder nach den Schranken der Zeit noch des Raums.
Legt man also den Maßstab realer Voraussetzungen an ihre Erzählungen, so
erscheint als ein monströses Durcheinander wunderlich gestalteter Trümmern,
was in der Ferne und in ungewissem Dämmerlicht betrachtet ein glänzendes,
imposantes, farbenprangendes Gebäude war. Die historische Kritik einer Sage
ober eines Gedichts, daS die Sage zum Gegenstand hat, ist ebenso widersinnig
wie die Betrachtung einer auf Fernwirkung berechneten Farbenskizze durch das
Mikroskop.

Diese Widersinnigkeit hat sich Napoleon zu schulde» kommen lassen, als
er in seiner unfreiwilligen Muße zu Se. Helena sich herabließ, das zweite
Buch der virgilischen Aeneide zu tntisiren, und seine Bemerkungen, so sehr sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/177>, abgerufen am 22.12.2024.