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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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pertinent war, uns über Dinge zu belehren, über die wir so viele dicke Bücher
mit zahllosen Citaten geschrieben und so viele gelehrte Collegia gelesen haben,
diese Opposition ist zum Theil bereits verstummt und wird bald gänzlich
schweigen. Dagegen ist noch, wie es scheint, bei vielen achtbaren Gelehrten
die Meinung verbreitet: Grotes Buch sei zwar für die richtige Erkenntniß der
historischen Entwicklung Griechenlands von dem größten Werth, doch in Bezug
auf die innern Zustände, die Cultur, das geistige Leben der Griechen werde
der deutsche Philolog vergebens nach Belehrung darin suchen. Wir sind
der entgegengesetzten Ansicht, und begrüßen deshalb daS Unternehmen eines
deutschen Philologen, Or. Th. Fischer in Königsberg, die auf Mythologie,
Alterthümer, Literatur, Kunst u. tgi. bezüglichen Capitel aus Grote in einer
besondern Uebersetzung herauszugeben"), mit um so größerer Freude, als die
bisherige Uebersetzung auch nicht einmal die bescheidensten Ansprüche befriedigen
kann. Bon dieser neuen Uebersetzung liegt der erste Band, die Mythologie,
bereits vor.

Der Geschichtschreiber Griechenlands kann entweder die griechische Mythologie
d. h. die griechische Religion einerseits und die griechische Sagenpoesie andrerseits
ganz ignoriren und seine Erzählung erst mit der historischen Zeit beginnen, oder er
muß die ganze Masse des mythischen Stoffes als solchen anerkennen und be¬
handeln, folglich von der Geschichte sondern. Ohne Zweifel wird er sich zur
letztern Methode entschließen müssen, wenn er ein vollständiges Bild von der
Entwicklung des griechischen Geistes geben will; denn der Götterglaube und die
Heldensage der Griechen sind für uns die einzigen Documente der schöpferischen
Thätigkeit des NationalgeistcS aus jener ältesten Zeit, die jenseit der historischen
Erinnerung liegt; aber dennoch reichen sie hin, uns den Geist dieser Periode
zu veranschaulichen, weil ihr ganzes geistiges Leben und Schaffen in der Religion
und der Sage seinen Ausdruck fand. Beide Schöpfungen, die eine aus dem Glau¬
ben, die andre aus Nationalgefühl und LocalpatriousmuS entsprungen, beide von
dem elektrischen Funken des griechischen Genius belebt, sind so unzertrennlich
miteinander verbunden, daß jeder Versuch, dies Ganze aufzulösen und einen
Theil der Geschichte, den andern der Mythologie zuzuweisen, nothwendig mi߬
lingen muß. Grote hat daher die auf uns gekommene Ueberlieferung der
Götter- und Heldensagen vollständig wiedergegeben. So kann das Buch selbst
von allen denen benutzt werden, die sich mit dem stofflichen Inhalt der griechischen
Mythologie bekannt machen wollen, und daß der Verfasser ein sehr großes
Publicum vor Augen gehabt hat, sieht man unter andern daraus, daß in der



*) Griechische Mythologie und Antiquitäten nebst dem Capitel über Homer nud aus¬
erwählte" Abschnitten über die Chronologie, Literatur, Kunst, Musik?c. übersetzt ans Georg
Grotes griechischer Geschichte von Dr. Th. Fischer, Prtvatdocenten in Königsberg. Leipzig,
Teubner 4 866.

pertinent war, uns über Dinge zu belehren, über die wir so viele dicke Bücher
mit zahllosen Citaten geschrieben und so viele gelehrte Collegia gelesen haben,
diese Opposition ist zum Theil bereits verstummt und wird bald gänzlich
schweigen. Dagegen ist noch, wie es scheint, bei vielen achtbaren Gelehrten
die Meinung verbreitet: Grotes Buch sei zwar für die richtige Erkenntniß der
historischen Entwicklung Griechenlands von dem größten Werth, doch in Bezug
auf die innern Zustände, die Cultur, das geistige Leben der Griechen werde
der deutsche Philolog vergebens nach Belehrung darin suchen. Wir sind
der entgegengesetzten Ansicht, und begrüßen deshalb daS Unternehmen eines
deutschen Philologen, Or. Th. Fischer in Königsberg, die auf Mythologie,
Alterthümer, Literatur, Kunst u. tgi. bezüglichen Capitel aus Grote in einer
besondern Uebersetzung herauszugeben"), mit um so größerer Freude, als die
bisherige Uebersetzung auch nicht einmal die bescheidensten Ansprüche befriedigen
kann. Bon dieser neuen Uebersetzung liegt der erste Band, die Mythologie,
bereits vor.

Der Geschichtschreiber Griechenlands kann entweder die griechische Mythologie
d. h. die griechische Religion einerseits und die griechische Sagenpoesie andrerseits
ganz ignoriren und seine Erzählung erst mit der historischen Zeit beginnen, oder er
muß die ganze Masse des mythischen Stoffes als solchen anerkennen und be¬
handeln, folglich von der Geschichte sondern. Ohne Zweifel wird er sich zur
letztern Methode entschließen müssen, wenn er ein vollständiges Bild von der
Entwicklung des griechischen Geistes geben will; denn der Götterglaube und die
Heldensage der Griechen sind für uns die einzigen Documente der schöpferischen
Thätigkeit des NationalgeistcS aus jener ältesten Zeit, die jenseit der historischen
Erinnerung liegt; aber dennoch reichen sie hin, uns den Geist dieser Periode
zu veranschaulichen, weil ihr ganzes geistiges Leben und Schaffen in der Religion
und der Sage seinen Ausdruck fand. Beide Schöpfungen, die eine aus dem Glau¬
ben, die andre aus Nationalgefühl und LocalpatriousmuS entsprungen, beide von
dem elektrischen Funken des griechischen Genius belebt, sind so unzertrennlich
miteinander verbunden, daß jeder Versuch, dies Ganze aufzulösen und einen
Theil der Geschichte, den andern der Mythologie zuzuweisen, nothwendig mi߬
lingen muß. Grote hat daher die auf uns gekommene Ueberlieferung der
Götter- und Heldensagen vollständig wiedergegeben. So kann das Buch selbst
von allen denen benutzt werden, die sich mit dem stofflichen Inhalt der griechischen
Mythologie bekannt machen wollen, und daß der Verfasser ein sehr großes
Publicum vor Augen gehabt hat, sieht man unter andern daraus, daß in der



*) Griechische Mythologie und Antiquitäten nebst dem Capitel über Homer nud aus¬
erwählte» Abschnitten über die Chronologie, Literatur, Kunst, Musik?c. übersetzt ans Georg
Grotes griechischer Geschichte von Dr. Th. Fischer, Prtvatdocenten in Königsberg. Leipzig,
Teubner 4 866.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/170>, abgerufen am 22.07.2024.