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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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wie er auch gedacht wird; sie müht sich ab, die Einheit in der Natur nachzu¬
weisen, hat dies aber noch nicht ausgeführt; sie kennt keinen Zweck, Plan,
Absicht der Schöpfung; diese Ideen sind vielmehr durch Theologie oder Philo¬
sophie in sie hineingetragen; der Glaube an einen persönlichen Gott läßt auch
einen bestimmten Zweck der Schöpfung annehmen, nicht umgekehrt. Das sind
> ja grade dieselben Sätze, welche er und Genossen gegen die Materialisten stets
und mit Recht im Munde führen!

"Das andere Moment, fährt er fort, welches den Materialismus wider¬
legt, ist das Genie. Dieses geht über alle Mechanik, über alles Gesetz. Man
hat die Gesetze der musikalischen Hatmonie ermittelt; aber hat man auch er¬
mittelt, auf welchen Gesetzen der diese Eindruck jener großen musikalischen Com-
positionen beruht? Wird man durch Bekanntschaft der Gesetze der Harmonie
einen Mozart hervorrufen? Die Existenz des Genies als einer Macht, die
das ins Dasein ruft, was da nicht mehr und in keinem Gesetze liegt, beweist,
daß noch Einer darüber ist, der das Genie selbst und seine schöpferische Kraft
wirkt, der überall dasjenige, das da nicht ist, ruft, daß es sei."

Dieses populäre ar^umlzntnm an dominem scheint noch eine Errungen¬
schaft der ehemaligen berliner Theegesellschaften zu sein; es ist eine Romantik.
Heutzutage will die Aesthetik von den gesetzlosen Genies nichts mehr wissen.
Natürlich, so lange wir den heutigen musikalischen Kraftgcnies keine andern
Gehirne in die Schädel setzen können, können wir, wenn wir auch sonst alles
wüßten, keine Mozarts aus ihnen machen. Die allgemeine Wirkung der
mvzartschen Musik setzt aber selbstverständlich eine allgemeine Ursache der Wir¬
kung voraus; daS Gesetz der Ursache und Wirkung muß also vorhanden sein,
wenn auch die Unvollkommenheit der Wissenschaften seine Erkenntniß noch un¬
möglich macht; man sagt daher mit Recht grade umgekehrt von einem schlechten
Musiker, daß er gesetzlos arbeitet. Die Existenz des Genies muß natürlich,
wie die aller andern Menschen, eine Ursache haben, die Produktivität der
Natur wird ja aber auch von niemandem geleugnet, und die Existenz Mozarts
kann nicht mehr gegen den Materialismus zeugen, als-die der ganzen Reihe
von Musikern, welche mit allmälig abnehmendem Genie bis zum geringsten
Stümper abwärts geht. Dieses Argument dürfen wir wol als einen Versuch
ansehen, in den fabrischen allerärgsten Gemeinplätzen gegen den Materialismus
zu reden: er ist aber mißlungen, denn statt mit göttlicher Kraft verbinden sich
die Gemeinplätze, wie man sieht, leichter mit völliger Gedankenlosigkeit.

Nachdem solchergestalt Stahl seine beiden' sogenannten Argumente aus
der Naturwissenschaft und aus der Aesthetik genommen, fängt er an zu reden
gegen jede Transaction und Coalition der "Kirche" mit andern spiritualistischen,
zum Theil edleren Richtungen, namentlich mit dem Nationalismus, wozu er
auch die hegelsche Philosophie rechnet. "Die christliche Kirche, sagt er, kann


wie er auch gedacht wird; sie müht sich ab, die Einheit in der Natur nachzu¬
weisen, hat dies aber noch nicht ausgeführt; sie kennt keinen Zweck, Plan,
Absicht der Schöpfung; diese Ideen sind vielmehr durch Theologie oder Philo¬
sophie in sie hineingetragen; der Glaube an einen persönlichen Gott läßt auch
einen bestimmten Zweck der Schöpfung annehmen, nicht umgekehrt. Das sind
> ja grade dieselben Sätze, welche er und Genossen gegen die Materialisten stets
und mit Recht im Munde führen!

„Das andere Moment, fährt er fort, welches den Materialismus wider¬
legt, ist das Genie. Dieses geht über alle Mechanik, über alles Gesetz. Man
hat die Gesetze der musikalischen Hatmonie ermittelt; aber hat man auch er¬
mittelt, auf welchen Gesetzen der diese Eindruck jener großen musikalischen Com-
positionen beruht? Wird man durch Bekanntschaft der Gesetze der Harmonie
einen Mozart hervorrufen? Die Existenz des Genies als einer Macht, die
das ins Dasein ruft, was da nicht mehr und in keinem Gesetze liegt, beweist,
daß noch Einer darüber ist, der das Genie selbst und seine schöpferische Kraft
wirkt, der überall dasjenige, das da nicht ist, ruft, daß es sei."

Dieses populäre ar^umlzntnm an dominem scheint noch eine Errungen¬
schaft der ehemaligen berliner Theegesellschaften zu sein; es ist eine Romantik.
Heutzutage will die Aesthetik von den gesetzlosen Genies nichts mehr wissen.
Natürlich, so lange wir den heutigen musikalischen Kraftgcnies keine andern
Gehirne in die Schädel setzen können, können wir, wenn wir auch sonst alles
wüßten, keine Mozarts aus ihnen machen. Die allgemeine Wirkung der
mvzartschen Musik setzt aber selbstverständlich eine allgemeine Ursache der Wir¬
kung voraus; daS Gesetz der Ursache und Wirkung muß also vorhanden sein,
wenn auch die Unvollkommenheit der Wissenschaften seine Erkenntniß noch un¬
möglich macht; man sagt daher mit Recht grade umgekehrt von einem schlechten
Musiker, daß er gesetzlos arbeitet. Die Existenz des Genies muß natürlich,
wie die aller andern Menschen, eine Ursache haben, die Produktivität der
Natur wird ja aber auch von niemandem geleugnet, und die Existenz Mozarts
kann nicht mehr gegen den Materialismus zeugen, als-die der ganzen Reihe
von Musikern, welche mit allmälig abnehmendem Genie bis zum geringsten
Stümper abwärts geht. Dieses Argument dürfen wir wol als einen Versuch
ansehen, in den fabrischen allerärgsten Gemeinplätzen gegen den Materialismus
zu reden: er ist aber mißlungen, denn statt mit göttlicher Kraft verbinden sich
die Gemeinplätze, wie man sieht, leichter mit völliger Gedankenlosigkeit.

Nachdem solchergestalt Stahl seine beiden' sogenannten Argumente aus
der Naturwissenschaft und aus der Aesthetik genommen, fängt er an zu reden
gegen jede Transaction und Coalition der „Kirche" mit andern spiritualistischen,
zum Theil edleren Richtungen, namentlich mit dem Nationalismus, wozu er
auch die hegelsche Philosophie rechnet. „Die christliche Kirche, sagt er, kann


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[0397] wie er auch gedacht wird; sie müht sich ab, die Einheit in der Natur nachzu¬ weisen, hat dies aber noch nicht ausgeführt; sie kennt keinen Zweck, Plan, Absicht der Schöpfung; diese Ideen sind vielmehr durch Theologie oder Philo¬ sophie in sie hineingetragen; der Glaube an einen persönlichen Gott läßt auch einen bestimmten Zweck der Schöpfung annehmen, nicht umgekehrt. Das sind > ja grade dieselben Sätze, welche er und Genossen gegen die Materialisten stets und mit Recht im Munde führen! „Das andere Moment, fährt er fort, welches den Materialismus wider¬ legt, ist das Genie. Dieses geht über alle Mechanik, über alles Gesetz. Man hat die Gesetze der musikalischen Hatmonie ermittelt; aber hat man auch er¬ mittelt, auf welchen Gesetzen der diese Eindruck jener großen musikalischen Com- positionen beruht? Wird man durch Bekanntschaft der Gesetze der Harmonie einen Mozart hervorrufen? Die Existenz des Genies als einer Macht, die das ins Dasein ruft, was da nicht mehr und in keinem Gesetze liegt, beweist, daß noch Einer darüber ist, der das Genie selbst und seine schöpferische Kraft wirkt, der überall dasjenige, das da nicht ist, ruft, daß es sei." Dieses populäre ar^umlzntnm an dominem scheint noch eine Errungen¬ schaft der ehemaligen berliner Theegesellschaften zu sein; es ist eine Romantik. Heutzutage will die Aesthetik von den gesetzlosen Genies nichts mehr wissen. Natürlich, so lange wir den heutigen musikalischen Kraftgcnies keine andern Gehirne in die Schädel setzen können, können wir, wenn wir auch sonst alles wüßten, keine Mozarts aus ihnen machen. Die allgemeine Wirkung der mvzartschen Musik setzt aber selbstverständlich eine allgemeine Ursache der Wir¬ kung voraus; daS Gesetz der Ursache und Wirkung muß also vorhanden sein, wenn auch die Unvollkommenheit der Wissenschaften seine Erkenntniß noch un¬ möglich macht; man sagt daher mit Recht grade umgekehrt von einem schlechten Musiker, daß er gesetzlos arbeitet. Die Existenz des Genies muß natürlich, wie die aller andern Menschen, eine Ursache haben, die Produktivität der Natur wird ja aber auch von niemandem geleugnet, und die Existenz Mozarts kann nicht mehr gegen den Materialismus zeugen, als-die der ganzen Reihe von Musikern, welche mit allmälig abnehmendem Genie bis zum geringsten Stümper abwärts geht. Dieses Argument dürfen wir wol als einen Versuch ansehen, in den fabrischen allerärgsten Gemeinplätzen gegen den Materialismus zu reden: er ist aber mißlungen, denn statt mit göttlicher Kraft verbinden sich die Gemeinplätze, wie man sieht, leichter mit völliger Gedankenlosigkeit. Nachdem solchergestalt Stahl seine beiden' sogenannten Argumente aus der Naturwissenschaft und aus der Aesthetik genommen, fängt er an zu reden gegen jede Transaction und Coalition der „Kirche" mit andern spiritualistischen, zum Theil edleren Richtungen, namentlich mit dem Nationalismus, wozu er auch die hegelsche Philosophie rechnet. „Die christliche Kirche, sagt er, kann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/397>, abgerufen am 23.07.2024.