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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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werden, was die bisherigen philosophischen Bestrebungen Positives und Blei¬
bendes geschaffen haben; vielleicht wird sich daraus ergeben, daß jene große
Arbeit, so viel Willkür und Uebereilung auch damit verbunden war, doch nicht
ohne erhebliche Frucht geblieben ist.

Sodann muß die Philosophie, um ihren Hauptgegenstand, den Geist,
gründlich prüfen zu können, sich dasjenige aneignen, was die Naturwissenschaft
über, die endlichen Vorbedingungen des Geistes festgestellt hat. Abgesehen von
dem materiellen Gewinn, den sie daraus zieht, wird sie dadurch auch zu dem
unschätzbaren Fortschritt veranlaßt werden, genau zu unterscheiden zwischen
dem, was sie weiß, und dem, was sie nicht weiß. Die Naturwissenschaft be¬
gnügt sich bei ihrem Gegenstand, der Natur, damit, dasjenige zu behaupten und
zu erklären, was sie beweisen kann; die Philosophie dagegen hielt sich für ver¬
pflichtet, ihren Gegenstand, den Geist, vollständig darzustellen und zu erklären.
Wenn sie also über eine bestimmte Seite ihres Gegenstandes nichts zu sagen
wußte, so ließ sie sich einfallen, was ihr eben einfallen wollte, und verwan¬
delte ihre Einfälle sofort in eine Doctrin. Ein wissenschaftlicher Fortschritt der
Philosophie wird erst dann möglich sein, wenn man diesen Dilettantismus des
Meinens und Behauptens ein für alle Mal aufgibt,

Was endlich die Anwendung der Philosophie auf de"n concreten geistigen
Gebiete betrifft, so wird die Philosophie sich dazu bequemen müssen, von innen
heraus zu arbeiten d. h. sie wird in der Religion, in der Rechtswissenschaft,
in der Geschichte u. s. w. nicht ein außenstehendes, metaphysisches Princip
illustriren und eremplisiciren wollen, sondern sie wird mit dem großen Sinn
und den weiten Perspectiven, die sie aus ihrer eignen Thätigkeit gewonnen, nur
den Gegenstand selbst in seiner reinen und unverfälschten Form erscheinen
lassen. Einer der Schriftsteller, der uns zu diesen Bemerkungen veranlaßt,
Heinrich Rückert/) charakterisiert in der Vorrede sein Unternehmen folgender¬
maßen. "Wer sich die Mühe geben will, das Buch genauer anzusehen, wird
finden, daß es sich darauf beschränkt, den thatsächlichen Stoff der Geschichte
in seiner ganzen Kraft und in seinem ganzen Rechte bestehen zu lassen, und
daß demselben nirgend durch ein von außen hereingetragenes Princip des
systematischen Denkens zu nahe getreten ist. Man wird, hoffe ich, ebenso¬
wenig in der Auffassung des innern Ganges der weltgeschichtlichen Entwicklung,
wie in der pragmatischen Verknüpfung ihrer einzelnen Phänomene irgendwie
eine willkürliche oder blos subjective Construction finden. Es wird nichts weiter
vorausgesetzt, als der allgemein zugegebene Inhalt unsers sittlichen Bewußtseins;
alles andere, was das Buch enthält, beweist und erklärt sich, so weit es über-



*) Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung. Zwei Bände. Leipzig,
T. O, Weigel.

werden, was die bisherigen philosophischen Bestrebungen Positives und Blei¬
bendes geschaffen haben; vielleicht wird sich daraus ergeben, daß jene große
Arbeit, so viel Willkür und Uebereilung auch damit verbunden war, doch nicht
ohne erhebliche Frucht geblieben ist.

Sodann muß die Philosophie, um ihren Hauptgegenstand, den Geist,
gründlich prüfen zu können, sich dasjenige aneignen, was die Naturwissenschaft
über, die endlichen Vorbedingungen des Geistes festgestellt hat. Abgesehen von
dem materiellen Gewinn, den sie daraus zieht, wird sie dadurch auch zu dem
unschätzbaren Fortschritt veranlaßt werden, genau zu unterscheiden zwischen
dem, was sie weiß, und dem, was sie nicht weiß. Die Naturwissenschaft be¬
gnügt sich bei ihrem Gegenstand, der Natur, damit, dasjenige zu behaupten und
zu erklären, was sie beweisen kann; die Philosophie dagegen hielt sich für ver¬
pflichtet, ihren Gegenstand, den Geist, vollständig darzustellen und zu erklären.
Wenn sie also über eine bestimmte Seite ihres Gegenstandes nichts zu sagen
wußte, so ließ sie sich einfallen, was ihr eben einfallen wollte, und verwan¬
delte ihre Einfälle sofort in eine Doctrin. Ein wissenschaftlicher Fortschritt der
Philosophie wird erst dann möglich sein, wenn man diesen Dilettantismus des
Meinens und Behauptens ein für alle Mal aufgibt,

Was endlich die Anwendung der Philosophie auf de»n concreten geistigen
Gebiete betrifft, so wird die Philosophie sich dazu bequemen müssen, von innen
heraus zu arbeiten d. h. sie wird in der Religion, in der Rechtswissenschaft,
in der Geschichte u. s. w. nicht ein außenstehendes, metaphysisches Princip
illustriren und eremplisiciren wollen, sondern sie wird mit dem großen Sinn
und den weiten Perspectiven, die sie aus ihrer eignen Thätigkeit gewonnen, nur
den Gegenstand selbst in seiner reinen und unverfälschten Form erscheinen
lassen. Einer der Schriftsteller, der uns zu diesen Bemerkungen veranlaßt,
Heinrich Rückert/) charakterisiert in der Vorrede sein Unternehmen folgender¬
maßen. „Wer sich die Mühe geben will, das Buch genauer anzusehen, wird
finden, daß es sich darauf beschränkt, den thatsächlichen Stoff der Geschichte
in seiner ganzen Kraft und in seinem ganzen Rechte bestehen zu lassen, und
daß demselben nirgend durch ein von außen hereingetragenes Princip des
systematischen Denkens zu nahe getreten ist. Man wird, hoffe ich, ebenso¬
wenig in der Auffassung des innern Ganges der weltgeschichtlichen Entwicklung,
wie in der pragmatischen Verknüpfung ihrer einzelnen Phänomene irgendwie
eine willkürliche oder blos subjective Construction finden. Es wird nichts weiter
vorausgesetzt, als der allgemein zugegebene Inhalt unsers sittlichen Bewußtseins;
alles andere, was das Buch enthält, beweist und erklärt sich, so weit es über-



*) Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung. Zwei Bände. Leipzig,
T. O, Weigel.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/383>, abgerufen am 23.07.2024.