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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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möge der alten bekannten Wortformen ein für alle Mal so genau definiren
kann, daß jeder Zweifel darüber abgeschnitten wird.

Ein zweiter Fehler war die revolutionäre Gesinnung der deutschen Speku¬
lation: revolutionär nicht in politischer, sondern in wissenschaftlicher Beziehung,
Jeder neue Philosoph glaubte, nicht blos die Philosophie, sondern die Wissen¬
schaft überhaupt ganz von vorn anfang-en zu müssen, und alles, was früher
darin geleistet war, ignoriren zu dürfen, und dem Beispiel des Lehrers folgten
dann die zahlreichen Schüler; sie hielten sich durchweg im engen Kreis der
Schule, und der Blick in die übrige Welt war ihnen verschlossen. Daß man
die Beziehung zu der ältern Geschichte der Philosophie abbrach, konnte in
vieler Hinsicht gerechtfertigt werden, denn ein sehr großer Theil dieser ältern
Denksysteme mußte als lnhalt- und zwecklos vollkommen über Bord geworfen
werden, wenn man sich nicht in'einem ewigen Kreise leerer Gedanken umher-
treiben wollte. Aber verhängnisvoll wurde die perfide Nichtachtung der übrigen
Wissenschaften. Wir gebrauchen diesen starken Ausdruck, weil er dem Wesen
der Sache am nächsten kommt, aber nicht in Beziehung auf Fichte, der darin
ganz unbefangen zu Werke ging und jene Wissenschaften wirklich ignorirte,
sondern in Beziehung auf Schelling und Hegel, die sich nur den Anschein
gaben, als ob sie keine Noriz davon nähmen, in der That aber den Haupt¬
theil ihrer Lehren daher entlehnten. Sie nahmen die Resultate auf und ver¬
schmähten die Methode der Forschung; und daS rächte sich unter andern da¬
durch, daß sie jene Resultate nur ungenau aufnahmen, daß also ihr Wissen
zwar ein sehr vielseitiges, aber auch ein unklares, ein unwissenschaftliches war.
Wir glauben nicht, daß heute noch diese Behauptung von irgend wem ange¬
fochten werden wird, und wir dehnen sie nicht blos auf die Naturphilosophie,
sondern ohne Unterschied auf alle Theile der angewandten Philosophie aus,
auf die Rechts- und Religionsphilosophie, aus die Philosophie der Geschichte
u. s. w. -- Die neue Philosophie wird also einen andern Weg einschlagen
müssen; sie wird, sobald sie aus dem ihr eignen Gebiet der Logik und Meta¬
physik heraustritt, sich zunächst diejenige Wissenschaft, die sie geistig durchdringen
will, in der vollen wissenschaftlichen Strenge aneignen müssen, und wo sie
dann innerhalb dieser Wissenschaft vermöge ihrer eignen speculativen Werkzeuge
etwas Neues entdeckt, sei es auch nur eine Combination oder einen Vergleich,
wird sie auch dieses nicht durch eine bloße Versicherung abzumachen, sondern
zu begründen haben.

Demnach lassen sich für die Zeit, in welcher der speculative Geist ge¬
wissermaßen brach liegt d. h. wo er sich mehr conservativ und kritisch, als er¬
finderisch zeigt, folgende nothwendigen Fortschritte feststellen, die jedem Unter¬
nehmen von größerm Umfang zu Grunde liegen müssen.

Einmal muß ein wissenschaftlich gehaltenes Inventarium dessen aufgestellt


möge der alten bekannten Wortformen ein für alle Mal so genau definiren
kann, daß jeder Zweifel darüber abgeschnitten wird.

Ein zweiter Fehler war die revolutionäre Gesinnung der deutschen Speku¬
lation: revolutionär nicht in politischer, sondern in wissenschaftlicher Beziehung,
Jeder neue Philosoph glaubte, nicht blos die Philosophie, sondern die Wissen¬
schaft überhaupt ganz von vorn anfang-en zu müssen, und alles, was früher
darin geleistet war, ignoriren zu dürfen, und dem Beispiel des Lehrers folgten
dann die zahlreichen Schüler; sie hielten sich durchweg im engen Kreis der
Schule, und der Blick in die übrige Welt war ihnen verschlossen. Daß man
die Beziehung zu der ältern Geschichte der Philosophie abbrach, konnte in
vieler Hinsicht gerechtfertigt werden, denn ein sehr großer Theil dieser ältern
Denksysteme mußte als lnhalt- und zwecklos vollkommen über Bord geworfen
werden, wenn man sich nicht in'einem ewigen Kreise leerer Gedanken umher-
treiben wollte. Aber verhängnisvoll wurde die perfide Nichtachtung der übrigen
Wissenschaften. Wir gebrauchen diesen starken Ausdruck, weil er dem Wesen
der Sache am nächsten kommt, aber nicht in Beziehung auf Fichte, der darin
ganz unbefangen zu Werke ging und jene Wissenschaften wirklich ignorirte,
sondern in Beziehung auf Schelling und Hegel, die sich nur den Anschein
gaben, als ob sie keine Noriz davon nähmen, in der That aber den Haupt¬
theil ihrer Lehren daher entlehnten. Sie nahmen die Resultate auf und ver¬
schmähten die Methode der Forschung; und daS rächte sich unter andern da¬
durch, daß sie jene Resultate nur ungenau aufnahmen, daß also ihr Wissen
zwar ein sehr vielseitiges, aber auch ein unklares, ein unwissenschaftliches war.
Wir glauben nicht, daß heute noch diese Behauptung von irgend wem ange¬
fochten werden wird, und wir dehnen sie nicht blos auf die Naturphilosophie,
sondern ohne Unterschied auf alle Theile der angewandten Philosophie aus,
auf die Rechts- und Religionsphilosophie, aus die Philosophie der Geschichte
u. s. w. — Die neue Philosophie wird also einen andern Weg einschlagen
müssen; sie wird, sobald sie aus dem ihr eignen Gebiet der Logik und Meta¬
physik heraustritt, sich zunächst diejenige Wissenschaft, die sie geistig durchdringen
will, in der vollen wissenschaftlichen Strenge aneignen müssen, und wo sie
dann innerhalb dieser Wissenschaft vermöge ihrer eignen speculativen Werkzeuge
etwas Neues entdeckt, sei es auch nur eine Combination oder einen Vergleich,
wird sie auch dieses nicht durch eine bloße Versicherung abzumachen, sondern
zu begründen haben.

Demnach lassen sich für die Zeit, in welcher der speculative Geist ge¬
wissermaßen brach liegt d. h. wo er sich mehr conservativ und kritisch, als er¬
finderisch zeigt, folgende nothwendigen Fortschritte feststellen, die jedem Unter¬
nehmen von größerm Umfang zu Grunde liegen müssen.

Einmal muß ein wissenschaftlich gehaltenes Inventarium dessen aufgestellt


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[0382] möge der alten bekannten Wortformen ein für alle Mal so genau definiren kann, daß jeder Zweifel darüber abgeschnitten wird. Ein zweiter Fehler war die revolutionäre Gesinnung der deutschen Speku¬ lation: revolutionär nicht in politischer, sondern in wissenschaftlicher Beziehung, Jeder neue Philosoph glaubte, nicht blos die Philosophie, sondern die Wissen¬ schaft überhaupt ganz von vorn anfang-en zu müssen, und alles, was früher darin geleistet war, ignoriren zu dürfen, und dem Beispiel des Lehrers folgten dann die zahlreichen Schüler; sie hielten sich durchweg im engen Kreis der Schule, und der Blick in die übrige Welt war ihnen verschlossen. Daß man die Beziehung zu der ältern Geschichte der Philosophie abbrach, konnte in vieler Hinsicht gerechtfertigt werden, denn ein sehr großer Theil dieser ältern Denksysteme mußte als lnhalt- und zwecklos vollkommen über Bord geworfen werden, wenn man sich nicht in'einem ewigen Kreise leerer Gedanken umher- treiben wollte. Aber verhängnisvoll wurde die perfide Nichtachtung der übrigen Wissenschaften. Wir gebrauchen diesen starken Ausdruck, weil er dem Wesen der Sache am nächsten kommt, aber nicht in Beziehung auf Fichte, der darin ganz unbefangen zu Werke ging und jene Wissenschaften wirklich ignorirte, sondern in Beziehung auf Schelling und Hegel, die sich nur den Anschein gaben, als ob sie keine Noriz davon nähmen, in der That aber den Haupt¬ theil ihrer Lehren daher entlehnten. Sie nahmen die Resultate auf und ver¬ schmähten die Methode der Forschung; und daS rächte sich unter andern da¬ durch, daß sie jene Resultate nur ungenau aufnahmen, daß also ihr Wissen zwar ein sehr vielseitiges, aber auch ein unklares, ein unwissenschaftliches war. Wir glauben nicht, daß heute noch diese Behauptung von irgend wem ange¬ fochten werden wird, und wir dehnen sie nicht blos auf die Naturphilosophie, sondern ohne Unterschied auf alle Theile der angewandten Philosophie aus, auf die Rechts- und Religionsphilosophie, aus die Philosophie der Geschichte u. s. w. — Die neue Philosophie wird also einen andern Weg einschlagen müssen; sie wird, sobald sie aus dem ihr eignen Gebiet der Logik und Meta¬ physik heraustritt, sich zunächst diejenige Wissenschaft, die sie geistig durchdringen will, in der vollen wissenschaftlichen Strenge aneignen müssen, und wo sie dann innerhalb dieser Wissenschaft vermöge ihrer eignen speculativen Werkzeuge etwas Neues entdeckt, sei es auch nur eine Combination oder einen Vergleich, wird sie auch dieses nicht durch eine bloße Versicherung abzumachen, sondern zu begründen haben. Demnach lassen sich für die Zeit, in welcher der speculative Geist ge¬ wissermaßen brach liegt d. h. wo er sich mehr conservativ und kritisch, als er¬ finderisch zeigt, folgende nothwendigen Fortschritte feststellen, die jedem Unter¬ nehmen von größerm Umfang zu Grunde liegen müssen. Einmal muß ein wissenschaftlich gehaltenes Inventarium dessen aufgestellt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/382>, abgerufen am 26.08.2024.