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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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schaftlichen Darstellungen von Merlan aufmerksam machte und die neuern
Künstler aufforderte, diejenigen Gebäude, die einen besonders originellen und
nachahmungswürdigen Charakter haben, aus jenen Landschaften besonders her¬
vorzuheben und sie in größern Dimensionen, allenfalls mit Beihilfe der Phan¬
tasie auszuführen, zunächst als Vorzeichnungen, damit die jungen Künstler bei
ihrem Studium sich buntere und mannigfaltigere Handgriffe aneignen können.
In diesem Sinn sind beide Sammlungen dem Inhalt wie der Ausführung
nach dringend zu empfehlen. Es wird'niemand daran zweifeln, daß die Fen¬
ster, Thüren, Schlösser, Schlüssel, Windfahnen u. s, w. der einen Sammlung,
so wie die Dächer, Erker, Giebel u, s. w. der andern weit malerischer sind,
als die geradlinigen Formen der Renaissance und deS modernen Kasernenstils.
Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, die merianischen Landschaften selbst an¬
zusehen, wird sich noch mit großem Wohlgefallen an den pittoresken Anblick
der alten Städte erinnern, die gegen die Eintönigkeit der modernen Residenzen
einen sehr vortheilhaften Abstich bilden. Zunächst möchten also diese Bilder
für den Maler unschätzbar sein; ebenso für die Phantasie des Publicums,
welche durch derartige Vorstellungen daran gewöhnt wird, mit der Rücksicht
aus die Nützlichkeit der Wohnungen zugleich den Wunsch nach einem gefälligen
Eindruck des Aeußern zu verbinden.

Indeß schon hier tritt ein Bedenken ein. Reichensperger macht selbst ganz
mit Recht darauf aufmerksam, daß die Rücksicht auf das Pittoreske für die
Baukunst durchaus nicht maßgebend sein darf, aber wie eS ihm häufig geht,
er läßt dann die Bemerkung wieder fallen, und zieht seine Folgerungen, als
wenn ihm so etwas gar nicht in den Sinn gekommen wäre.

Freilich ist es für das gegenseitige Verständniß schon ein großer Gewinn,
daß die gothische oder germanische Schule der Baukunst (die erstere Bezeichnung
ist jetzt verständigerweise wieder allgemein in Ausnahme gekommen, da man
dabei doch nicht mehr an die Gothen denkt, und da der Ausdruck germanisch
>n keiner Weise das Nichtige trifft) jetzt anfängt, auch auf die bürgerlichen
Wohnungen Rücksichten zu nehmen, da es bisher so aussah, als handelte es
sich blos um den Kirchenbau. Was den letztern betrifft, so wird jetzt wol bei
allen Kundigen die Ueberzeugung herrschen, daß für größere Kirchen die gothische
Form die zweckmäßige ist; für kleinere, wohlfeil gebaute Kirchen ist die Frage
noch offen, und da die Schule selbst zugesteht, daß unter ihren Anhängern
viele falsche Apostel sind, die nur auf den äußern Flitterputz Rücksicht nehmen,
und den innern Sinn der Construction vernachlässigen, so wird man wol ab¬
warten dürfen, bis unter ihnen auch über diesen Punkt eine größere Einheit
sich herausgestellt haben wird. Was aber die bürgerliche Baukunst betrifft, so
waren die Freunde des Mittelalters fast ausschließlich bei der Kritik stehen
geblieben, und wenn man ihrem Spott gegen die Geschmacklosigkeit der noter-


schaftlichen Darstellungen von Merlan aufmerksam machte und die neuern
Künstler aufforderte, diejenigen Gebäude, die einen besonders originellen und
nachahmungswürdigen Charakter haben, aus jenen Landschaften besonders her¬
vorzuheben und sie in größern Dimensionen, allenfalls mit Beihilfe der Phan¬
tasie auszuführen, zunächst als Vorzeichnungen, damit die jungen Künstler bei
ihrem Studium sich buntere und mannigfaltigere Handgriffe aneignen können.
In diesem Sinn sind beide Sammlungen dem Inhalt wie der Ausführung
nach dringend zu empfehlen. Es wird'niemand daran zweifeln, daß die Fen¬
ster, Thüren, Schlösser, Schlüssel, Windfahnen u. s, w. der einen Sammlung,
so wie die Dächer, Erker, Giebel u, s. w. der andern weit malerischer sind,
als die geradlinigen Formen der Renaissance und deS modernen Kasernenstils.
Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, die merianischen Landschaften selbst an¬
zusehen, wird sich noch mit großem Wohlgefallen an den pittoresken Anblick
der alten Städte erinnern, die gegen die Eintönigkeit der modernen Residenzen
einen sehr vortheilhaften Abstich bilden. Zunächst möchten also diese Bilder
für den Maler unschätzbar sein; ebenso für die Phantasie des Publicums,
welche durch derartige Vorstellungen daran gewöhnt wird, mit der Rücksicht
aus die Nützlichkeit der Wohnungen zugleich den Wunsch nach einem gefälligen
Eindruck des Aeußern zu verbinden.

Indeß schon hier tritt ein Bedenken ein. Reichensperger macht selbst ganz
mit Recht darauf aufmerksam, daß die Rücksicht auf das Pittoreske für die
Baukunst durchaus nicht maßgebend sein darf, aber wie eS ihm häufig geht,
er läßt dann die Bemerkung wieder fallen, und zieht seine Folgerungen, als
wenn ihm so etwas gar nicht in den Sinn gekommen wäre.

Freilich ist es für das gegenseitige Verständniß schon ein großer Gewinn,
daß die gothische oder germanische Schule der Baukunst (die erstere Bezeichnung
ist jetzt verständigerweise wieder allgemein in Ausnahme gekommen, da man
dabei doch nicht mehr an die Gothen denkt, und da der Ausdruck germanisch
>n keiner Weise das Nichtige trifft) jetzt anfängt, auch auf die bürgerlichen
Wohnungen Rücksichten zu nehmen, da es bisher so aussah, als handelte es
sich blos um den Kirchenbau. Was den letztern betrifft, so wird jetzt wol bei
allen Kundigen die Ueberzeugung herrschen, daß für größere Kirchen die gothische
Form die zweckmäßige ist; für kleinere, wohlfeil gebaute Kirchen ist die Frage
noch offen, und da die Schule selbst zugesteht, daß unter ihren Anhängern
viele falsche Apostel sind, die nur auf den äußern Flitterputz Rücksicht nehmen,
und den innern Sinn der Construction vernachlässigen, so wird man wol ab¬
warten dürfen, bis unter ihnen auch über diesen Punkt eine größere Einheit
sich herausgestellt haben wird. Was aber die bürgerliche Baukunst betrifft, so
waren die Freunde des Mittelalters fast ausschließlich bei der Kritik stehen
geblieben, und wenn man ihrem Spott gegen die Geschmacklosigkeit der noter-


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[0317] schaftlichen Darstellungen von Merlan aufmerksam machte und die neuern Künstler aufforderte, diejenigen Gebäude, die einen besonders originellen und nachahmungswürdigen Charakter haben, aus jenen Landschaften besonders her¬ vorzuheben und sie in größern Dimensionen, allenfalls mit Beihilfe der Phan¬ tasie auszuführen, zunächst als Vorzeichnungen, damit die jungen Künstler bei ihrem Studium sich buntere und mannigfaltigere Handgriffe aneignen können. In diesem Sinn sind beide Sammlungen dem Inhalt wie der Ausführung nach dringend zu empfehlen. Es wird'niemand daran zweifeln, daß die Fen¬ ster, Thüren, Schlösser, Schlüssel, Windfahnen u. s, w. der einen Sammlung, so wie die Dächer, Erker, Giebel u, s. w. der andern weit malerischer sind, als die geradlinigen Formen der Renaissance und deS modernen Kasernenstils. Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, die merianischen Landschaften selbst an¬ zusehen, wird sich noch mit großem Wohlgefallen an den pittoresken Anblick der alten Städte erinnern, die gegen die Eintönigkeit der modernen Residenzen einen sehr vortheilhaften Abstich bilden. Zunächst möchten also diese Bilder für den Maler unschätzbar sein; ebenso für die Phantasie des Publicums, welche durch derartige Vorstellungen daran gewöhnt wird, mit der Rücksicht aus die Nützlichkeit der Wohnungen zugleich den Wunsch nach einem gefälligen Eindruck des Aeußern zu verbinden. Indeß schon hier tritt ein Bedenken ein. Reichensperger macht selbst ganz mit Recht darauf aufmerksam, daß die Rücksicht auf das Pittoreske für die Baukunst durchaus nicht maßgebend sein darf, aber wie eS ihm häufig geht, er läßt dann die Bemerkung wieder fallen, und zieht seine Folgerungen, als wenn ihm so etwas gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Freilich ist es für das gegenseitige Verständniß schon ein großer Gewinn, daß die gothische oder germanische Schule der Baukunst (die erstere Bezeichnung ist jetzt verständigerweise wieder allgemein in Ausnahme gekommen, da man dabei doch nicht mehr an die Gothen denkt, und da der Ausdruck germanisch >n keiner Weise das Nichtige trifft) jetzt anfängt, auch auf die bürgerlichen Wohnungen Rücksichten zu nehmen, da es bisher so aussah, als handelte es sich blos um den Kirchenbau. Was den letztern betrifft, so wird jetzt wol bei allen Kundigen die Ueberzeugung herrschen, daß für größere Kirchen die gothische Form die zweckmäßige ist; für kleinere, wohlfeil gebaute Kirchen ist die Frage noch offen, und da die Schule selbst zugesteht, daß unter ihren Anhängern viele falsche Apostel sind, die nur auf den äußern Flitterputz Rücksicht nehmen, und den innern Sinn der Construction vernachlässigen, so wird man wol ab¬ warten dürfen, bis unter ihnen auch über diesen Punkt eine größere Einheit sich herausgestellt haben wird. Was aber die bürgerliche Baukunst betrifft, so waren die Freunde des Mittelalters fast ausschließlich bei der Kritik stehen geblieben, und wenn man ihrem Spott gegen die Geschmacklosigkeit der noter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/317>, abgerufen am 03.07.2024.