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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Durchreise daran erinnerten. In Pertz ("Leben Steins" Bd. V. S. 393 ff.)
wird ein Brief W. von Humboldts aus dem Juli 1819 mitgetheilt, worin
dieser die Existenz eines vom König unterzeichneten Verfassungsentwurfs fast
als Gewißheit ausspricht. Wenn man die Verzögerung der Verkündigung und
Ausführung der Verfassungsurkunde bedauerte, konnte man ihren Grund
doch immer in der Schwierigkeit der Ausarbeitung und dem Widerstand einer
kleinen Hofpartei suchen, welche endlich überwunden werden mußte. Das än¬
derte sich mit dem Jahre 1819. Die Demagogenverfolgungen, die karlsbader
Conferenzen und ihr Resultat, die wiener Schlußacte mußten auch die gläu¬
bigste Hoffnung "erfrechen lassen. Nun ward eS officiell propagirt, wenn auch
wegen des Widerspruchs Würtembergs nicht bundesgesetzlich festgestellt, daß der
Art. 13 der Bundesacte zwar "landständische Verfassungen" verheiße, damit jedoch
nur feudale, jede andre Art der Verfassung, also auch die gewünschte allgemeine
und Volksvertretung ausdrücklich verbiete. Darauf folgte das Gesetz vom ö. Juni
1823, welches die alten Provinzialstände einführte und erforderlichen Falls die
Zusammenberufung allgemeiner Landstände verhieß. Wie diese unter der Regierung
Friedrich Wilhelms III. nie in Wirksamkeit traten und nach vielem vergeblichen
Hoffen und Bitten endlich durch das Patent vom 3. Februar 1847 von seinem
Nachfolger zusammenberufen wurden, ist bekannt genug. Noch ehe ihre Thätigkeit
vermocht hatte, etwas Bleibendes zu schaffen, erhob sich die Woge deS Jah¬
res 18i8 um sie um, wie es den Anschein hatte, die ganze politische Ver¬
gangenheit spurlos zu begraben. So kam es nicht. Als die Stürme sich ge¬
legt hatten und die Flut verlaufen war, hatte sich zwar manches geändert,
aber es waren auch Haltpunkte genug stehen geblieben, von denen aus die
Vergangenheit zwanglos mit der Zukunft verknüpft werden mochte, die Grund¬
mauern, aus welchen der preußische Staat seit 1808 hatte fortgebaut werden
sollen, waren bloßgelegt: so erfüllte die octroirte Verfassung vom ä. December
18i8 die Zusagen des Edicts vom 22. Mai 181S. Diese octroirte Verfassung,
welche unter Benutzung des von der aufgelösten Nationalversammlung herrüh¬
renden Materials ausgearbeitet war, ist dann von den neuen Kammern revi-
dirt und unter dem 31. Januar 18S0 als Grundgesetz für die preußische Mo¬
narchie publicirt worden. Gegen die Art ihres Zustandekommens läßt sich
höchstens einwenden, daß die revidirenden Kammern im Beginn ihrer Thätig¬
keit aufgelöst und durch neue ersetzt wurden, die ihren Ursprung einem wesent¬
lich andern Wahlgesetz verdankten. Formell ist auch dieses gerechtfertigt, da
die neuen Kammern jenes Wahlgesetz nachträglich sanctionirten. Daß eS
aber zu den ärgsten Anomalien und einer vollständigen Illusion aller Garan¬
tien einer Verfassung führen muß, wenn eine Regierung dieses Verfahren
consequent anwendet, wird niemand leugnen können. Das mag dahingestellt
sein. Preußen ist jedenfalls seit mehr als 6 Jahren unter die constitutionellen


Durchreise daran erinnerten. In Pertz („Leben Steins" Bd. V. S. 393 ff.)
wird ein Brief W. von Humboldts aus dem Juli 1819 mitgetheilt, worin
dieser die Existenz eines vom König unterzeichneten Verfassungsentwurfs fast
als Gewißheit ausspricht. Wenn man die Verzögerung der Verkündigung und
Ausführung der Verfassungsurkunde bedauerte, konnte man ihren Grund
doch immer in der Schwierigkeit der Ausarbeitung und dem Widerstand einer
kleinen Hofpartei suchen, welche endlich überwunden werden mußte. Das än¬
derte sich mit dem Jahre 1819. Die Demagogenverfolgungen, die karlsbader
Conferenzen und ihr Resultat, die wiener Schlußacte mußten auch die gläu¬
bigste Hoffnung »erfrechen lassen. Nun ward eS officiell propagirt, wenn auch
wegen des Widerspruchs Würtembergs nicht bundesgesetzlich festgestellt, daß der
Art. 13 der Bundesacte zwar „landständische Verfassungen" verheiße, damit jedoch
nur feudale, jede andre Art der Verfassung, also auch die gewünschte allgemeine
und Volksvertretung ausdrücklich verbiete. Darauf folgte das Gesetz vom ö. Juni
1823, welches die alten Provinzialstände einführte und erforderlichen Falls die
Zusammenberufung allgemeiner Landstände verhieß. Wie diese unter der Regierung
Friedrich Wilhelms III. nie in Wirksamkeit traten und nach vielem vergeblichen
Hoffen und Bitten endlich durch das Patent vom 3. Februar 1847 von seinem
Nachfolger zusammenberufen wurden, ist bekannt genug. Noch ehe ihre Thätigkeit
vermocht hatte, etwas Bleibendes zu schaffen, erhob sich die Woge deS Jah¬
res 18i8 um sie um, wie es den Anschein hatte, die ganze politische Ver¬
gangenheit spurlos zu begraben. So kam es nicht. Als die Stürme sich ge¬
legt hatten und die Flut verlaufen war, hatte sich zwar manches geändert,
aber es waren auch Haltpunkte genug stehen geblieben, von denen aus die
Vergangenheit zwanglos mit der Zukunft verknüpft werden mochte, die Grund¬
mauern, aus welchen der preußische Staat seit 1808 hatte fortgebaut werden
sollen, waren bloßgelegt: so erfüllte die octroirte Verfassung vom ä. December
18i8 die Zusagen des Edicts vom 22. Mai 181S. Diese octroirte Verfassung,
welche unter Benutzung des von der aufgelösten Nationalversammlung herrüh¬
renden Materials ausgearbeitet war, ist dann von den neuen Kammern revi-
dirt und unter dem 31. Januar 18S0 als Grundgesetz für die preußische Mo¬
narchie publicirt worden. Gegen die Art ihres Zustandekommens läßt sich
höchstens einwenden, daß die revidirenden Kammern im Beginn ihrer Thätig¬
keit aufgelöst und durch neue ersetzt wurden, die ihren Ursprung einem wesent¬
lich andern Wahlgesetz verdankten. Formell ist auch dieses gerechtfertigt, da
die neuen Kammern jenes Wahlgesetz nachträglich sanctionirten. Daß eS
aber zu den ärgsten Anomalien und einer vollständigen Illusion aller Garan¬
tien einer Verfassung führen muß, wenn eine Regierung dieses Verfahren
consequent anwendet, wird niemand leugnen können. Das mag dahingestellt
sein. Preußen ist jedenfalls seit mehr als 6 Jahren unter die constitutionellen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/312>, abgerufen am 23.07.2024.