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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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es stände nahe dem Centrum des Welttheils und wenige Schritte würden es
mit Frankreich in eine directe Berührung bringen. Ebenso wäre es ein ent¬
scheidender Wurf über die Weltgeschicke, wenn die türkisch-astatischen Länder den
Nüssen zufallen sollten. Es ist klar, daß man den Pontus in demselben Maße
sperren, und jedes andre Kriegsfahrzeug daraus ausschließen kann, wenn man
Anatolien (Kleinasien) in den Händen hält, wie wenn man über Rumelien
gebietet. Außerdem wäre durch solche Besitzergreifung (Syrien und die Euphrat-
länder eingerechnet) Europa durch russisches Gebiet von Asien geschieden. Der
große Gedanke, diesen letztern Welttheil einst dem unsrigen durch ein gro߬
artiges System von Verkehrsstraßen näher zu rücken, wäre der Gnade des sla¬
wischen Selbstherrschers anheim gegeben; für England bestände keine Möglich¬
keit mehr, sich vom Gestade des Mittelmeers aus eine Landverbindung mit
Indien zu sichern, ja es würde in Zweifel zu stellen sein, ob der Suezkanal
für den europäischen Handel noch nutzbar wäre, indem ein Schritt vorwärts
Nußland zu ihm hinführen und den Isthmus in seine Hand geben würde.
Dieser Isthmus wäre dann das richtige Destlee zur Ueberleitung der russischen
Macht nach dem dritten Welttheil unsrer Hemisphäre.

Wenn Rußland Syrien besitzt, ist es auch Herr von Aegypten, und es
ist seinem Willen anheimgestellt, ob es der europäischen Schiffahrt die See¬
passage gestatten will, die man jetzt mit großen Opfern im Interesse derselben
zu eröffnen arbeitet.

Eine Besitznahme Persiens durch Rußland würde ähnliche Folgen haben.
Das Vorschreiten über das Reich des Schäds bis zur Südgrenze am indischen
Ocean würde Europa ebenso nachdrücklich von Asien abschneiden, wie die
Besitznahme der gesammten asiatischen Türkei. -- Allein diese Abschneidung
ginge in einer, Sphäre vor sich, welche bisher fast außerhalb der europäischen
Politik gelegen hat und für welche man noch jetzt in unserem Welttheil nur
ein geringes Maß des Interesses besitzt. Persien berührt nicht Europa, aber
es ist mit seinen Hinterländern ein Grenzstaat von Indien und den Depen-
denzien der dortigen britischen Herrschaft. Die Wegnahme von Persien ist
aber für Rußland ein bei weitem leichteres Werk, und man darf annehmen,
daß es auf dem Programme der russischen Politik jetzt die voranstehende Ma߬
regel ist. Persien ist der Macht der europäischen Staaten, mit einziger Aus¬
nahme Englands, unzugänglich, und es liegt sür Frankreich, Oestreich, Preußen
ziemlich außer dem Bereich der Möglichkeit, Rußland bei seinem etwaigen
Vorgehen gegen Teheran, Jspahan und Herab militärische Hindernisse in den
Weg zu legen. Dagegen kann Rußland gegen das Reich des Schah eine
ausreichende Kraft verwenden. Ihm stehen drei große Operationswege offen,
die Pässe über den Kaukasus, das kaspische Meer und die turkmanischen
Steppen. Namentlich der mittlere dieser Wege empfiehlt sich, weil man auf


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es stände nahe dem Centrum des Welttheils und wenige Schritte würden es
mit Frankreich in eine directe Berührung bringen. Ebenso wäre es ein ent¬
scheidender Wurf über die Weltgeschicke, wenn die türkisch-astatischen Länder den
Nüssen zufallen sollten. Es ist klar, daß man den Pontus in demselben Maße
sperren, und jedes andre Kriegsfahrzeug daraus ausschließen kann, wenn man
Anatolien (Kleinasien) in den Händen hält, wie wenn man über Rumelien
gebietet. Außerdem wäre durch solche Besitzergreifung (Syrien und die Euphrat-
länder eingerechnet) Europa durch russisches Gebiet von Asien geschieden. Der
große Gedanke, diesen letztern Welttheil einst dem unsrigen durch ein gro߬
artiges System von Verkehrsstraßen näher zu rücken, wäre der Gnade des sla¬
wischen Selbstherrschers anheim gegeben; für England bestände keine Möglich¬
keit mehr, sich vom Gestade des Mittelmeers aus eine Landverbindung mit
Indien zu sichern, ja es würde in Zweifel zu stellen sein, ob der Suezkanal
für den europäischen Handel noch nutzbar wäre, indem ein Schritt vorwärts
Nußland zu ihm hinführen und den Isthmus in seine Hand geben würde.
Dieser Isthmus wäre dann das richtige Destlee zur Ueberleitung der russischen
Macht nach dem dritten Welttheil unsrer Hemisphäre.

Wenn Rußland Syrien besitzt, ist es auch Herr von Aegypten, und es
ist seinem Willen anheimgestellt, ob es der europäischen Schiffahrt die See¬
passage gestatten will, die man jetzt mit großen Opfern im Interesse derselben
zu eröffnen arbeitet.

Eine Besitznahme Persiens durch Rußland würde ähnliche Folgen haben.
Das Vorschreiten über das Reich des Schäds bis zur Südgrenze am indischen
Ocean würde Europa ebenso nachdrücklich von Asien abschneiden, wie die
Besitznahme der gesammten asiatischen Türkei. — Allein diese Abschneidung
ginge in einer, Sphäre vor sich, welche bisher fast außerhalb der europäischen
Politik gelegen hat und für welche man noch jetzt in unserem Welttheil nur
ein geringes Maß des Interesses besitzt. Persien berührt nicht Europa, aber
es ist mit seinen Hinterländern ein Grenzstaat von Indien und den Depen-
denzien der dortigen britischen Herrschaft. Die Wegnahme von Persien ist
aber für Rußland ein bei weitem leichteres Werk, und man darf annehmen,
daß es auf dem Programme der russischen Politik jetzt die voranstehende Ma߬
regel ist. Persien ist der Macht der europäischen Staaten, mit einziger Aus¬
nahme Englands, unzugänglich, und es liegt sür Frankreich, Oestreich, Preußen
ziemlich außer dem Bereich der Möglichkeit, Rußland bei seinem etwaigen
Vorgehen gegen Teheran, Jspahan und Herab militärische Hindernisse in den
Weg zu legen. Dagegen kann Rußland gegen das Reich des Schah eine
ausreichende Kraft verwenden. Ihm stehen drei große Operationswege offen,
die Pässe über den Kaukasus, das kaspische Meer und die turkmanischen
Steppen. Namentlich der mittlere dieser Wege empfiehlt sich, weil man auf


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[0307] es stände nahe dem Centrum des Welttheils und wenige Schritte würden es mit Frankreich in eine directe Berührung bringen. Ebenso wäre es ein ent¬ scheidender Wurf über die Weltgeschicke, wenn die türkisch-astatischen Länder den Nüssen zufallen sollten. Es ist klar, daß man den Pontus in demselben Maße sperren, und jedes andre Kriegsfahrzeug daraus ausschließen kann, wenn man Anatolien (Kleinasien) in den Händen hält, wie wenn man über Rumelien gebietet. Außerdem wäre durch solche Besitzergreifung (Syrien und die Euphrat- länder eingerechnet) Europa durch russisches Gebiet von Asien geschieden. Der große Gedanke, diesen letztern Welttheil einst dem unsrigen durch ein gro߬ artiges System von Verkehrsstraßen näher zu rücken, wäre der Gnade des sla¬ wischen Selbstherrschers anheim gegeben; für England bestände keine Möglich¬ keit mehr, sich vom Gestade des Mittelmeers aus eine Landverbindung mit Indien zu sichern, ja es würde in Zweifel zu stellen sein, ob der Suezkanal für den europäischen Handel noch nutzbar wäre, indem ein Schritt vorwärts Nußland zu ihm hinführen und den Isthmus in seine Hand geben würde. Dieser Isthmus wäre dann das richtige Destlee zur Ueberleitung der russischen Macht nach dem dritten Welttheil unsrer Hemisphäre. Wenn Rußland Syrien besitzt, ist es auch Herr von Aegypten, und es ist seinem Willen anheimgestellt, ob es der europäischen Schiffahrt die See¬ passage gestatten will, die man jetzt mit großen Opfern im Interesse derselben zu eröffnen arbeitet. Eine Besitznahme Persiens durch Rußland würde ähnliche Folgen haben. Das Vorschreiten über das Reich des Schäds bis zur Südgrenze am indischen Ocean würde Europa ebenso nachdrücklich von Asien abschneiden, wie die Besitznahme der gesammten asiatischen Türkei. — Allein diese Abschneidung ginge in einer, Sphäre vor sich, welche bisher fast außerhalb der europäischen Politik gelegen hat und für welche man noch jetzt in unserem Welttheil nur ein geringes Maß des Interesses besitzt. Persien berührt nicht Europa, aber es ist mit seinen Hinterländern ein Grenzstaat von Indien und den Depen- denzien der dortigen britischen Herrschaft. Die Wegnahme von Persien ist aber für Rußland ein bei weitem leichteres Werk, und man darf annehmen, daß es auf dem Programme der russischen Politik jetzt die voranstehende Ma߬ regel ist. Persien ist der Macht der europäischen Staaten, mit einziger Aus¬ nahme Englands, unzugänglich, und es liegt sür Frankreich, Oestreich, Preußen ziemlich außer dem Bereich der Möglichkeit, Rußland bei seinem etwaigen Vorgehen gegen Teheran, Jspahan und Herab militärische Hindernisse in den Weg zu legen. Dagegen kann Rußland gegen das Reich des Schah eine ausreichende Kraft verwenden. Ihm stehen drei große Operationswege offen, die Pässe über den Kaukasus, das kaspische Meer und die turkmanischen Steppen. Namentlich der mittlere dieser Wege empfiehlt sich, weil man auf 38*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/307>, abgerufen am 23.07.2024.