Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bei einem Kunstwerk das Wesentliche liegt, dasjenige, was es zum Kunstwerk
macht, sondern er ist auch im Stande, seinen Lesern deutlich ztt machen, wa¬
rum es daS Wesentliche ist; freilich nicht Lesern vom gewöhnlichen Schlage,
sondern nur solchen, die sich bereits ernsthaft mit der Musik beschäftigt haben.
Aber deren ist doch jetzt eine große Zahl; und wie sehr wir auch grade in der
Musik durch einen schwächlichen unproductiven Dilettantismus gepeinigt werden,
so gibt es grade hier eine nicht geringe Zahl von Dilettanten, die in Bezug
auf feines Verständniß sich den tüchtigsten ausübenden Musikern an die Seite
stellen können. Abgesehen von dieser scharfen Hervorhebung des Wesentlichen
und Charakteristischen, hat der Verfasser mit Recht erkannt, daß, wenn die
Beschreibung eines so schwer darzustellenden Gegenstandes überhaupt einen
Sinn haben soll, sie sehr ausführlich sein und in die Einzelheiten eingehen
muß. Er gibt daher jene vornehme Kürze, die mit einzelnen geistvollen Be¬
merkungen das Kunstwerk abgefertigt zu haben glaubt, durchweg auf und spart
die Worte nicht; aber freilich gebraucht er nur solche Worte, die wirklich etwas
sagen. Leser, die Bücher nur aufschlagen, um sich einige Phrasen sür
die Conversation anzueignen, wie sie das aus den hoffmannschen Phantasie¬
stücken gewöhnt sind, haben sich über die Ausführlichkeit mancher Abschnitte
des ersten Bandes beschwert; aber wem es wirklich darum zu thun ist, sich
voll dem Gegenstand ein erschöpfendes Bild zu machen, wird ihm für diese
Ausführlichkeit aufrichtigen Dank sagen.

Der Verfasser hat noch ein Hilfsmittel angewendet, welches freilich nicht
bei jedem Componisten in dieser Ausdehnung hätte durchgeführt werden können;
er sucht nämlich, wo es irgend angeht, an Stelle der descnptiven Form die
genetische Entwicklung zu setzen. Er hat sich keine Mühe verdrießen lassen,
den Einflüssen nachzuspüren, welche auf Mozart zunächst die väterliche Vor¬
bildung, dann der Umgang mit bedeutenden Menschen, das Studium classischer
Werke, das Bedürfniß einzelner Sänger und Sängerinnen:c., ausgeübt haben.
Zwar verfällt er keineswegs in den Wahn, Mozarts Werke gewissermaßen als
einen chemischen Niederschlag aus diesen Grundstoffen zu betrachten; er weiß
sehr wohl, und spricht es sehr deutlich aus, daß der Genius die Haupsache
thut, daß er aus jenen Stoffen nur das Homogene aufnimmt, daß er auch
in dem scheinbar Fremden sein geistiges Eigenthum wieder findet; allein durch
das gewissenhafte StudiuM jener elementaren Stoffe ist doch nicht blos ein
Fingerzeig für den Bildungsgang des Künstlers, sondern, was hier noch wich¬
tiger ist, ein sehr bequemes Hilfsmittel gegeben, um auch sür den Leser den
genetischen Weg deutlich und fruchtbar zu machen. Mozart hat durchweg mit
einem sehr klaren und bestimmten Bewußtsein über seinen Zweck und seine
Mittel gearbeitet; freilich nicht nach Art der modernen Kunstphilysophen, und


bei einem Kunstwerk das Wesentliche liegt, dasjenige, was es zum Kunstwerk
macht, sondern er ist auch im Stande, seinen Lesern deutlich ztt machen, wa¬
rum es daS Wesentliche ist; freilich nicht Lesern vom gewöhnlichen Schlage,
sondern nur solchen, die sich bereits ernsthaft mit der Musik beschäftigt haben.
Aber deren ist doch jetzt eine große Zahl; und wie sehr wir auch grade in der
Musik durch einen schwächlichen unproductiven Dilettantismus gepeinigt werden,
so gibt es grade hier eine nicht geringe Zahl von Dilettanten, die in Bezug
auf feines Verständniß sich den tüchtigsten ausübenden Musikern an die Seite
stellen können. Abgesehen von dieser scharfen Hervorhebung des Wesentlichen
und Charakteristischen, hat der Verfasser mit Recht erkannt, daß, wenn die
Beschreibung eines so schwer darzustellenden Gegenstandes überhaupt einen
Sinn haben soll, sie sehr ausführlich sein und in die Einzelheiten eingehen
muß. Er gibt daher jene vornehme Kürze, die mit einzelnen geistvollen Be¬
merkungen das Kunstwerk abgefertigt zu haben glaubt, durchweg auf und spart
die Worte nicht; aber freilich gebraucht er nur solche Worte, die wirklich etwas
sagen. Leser, die Bücher nur aufschlagen, um sich einige Phrasen sür
die Conversation anzueignen, wie sie das aus den hoffmannschen Phantasie¬
stücken gewöhnt sind, haben sich über die Ausführlichkeit mancher Abschnitte
des ersten Bandes beschwert; aber wem es wirklich darum zu thun ist, sich
voll dem Gegenstand ein erschöpfendes Bild zu machen, wird ihm für diese
Ausführlichkeit aufrichtigen Dank sagen.

Der Verfasser hat noch ein Hilfsmittel angewendet, welches freilich nicht
bei jedem Componisten in dieser Ausdehnung hätte durchgeführt werden können;
er sucht nämlich, wo es irgend angeht, an Stelle der descnptiven Form die
genetische Entwicklung zu setzen. Er hat sich keine Mühe verdrießen lassen,
den Einflüssen nachzuspüren, welche auf Mozart zunächst die väterliche Vor¬
bildung, dann der Umgang mit bedeutenden Menschen, das Studium classischer
Werke, das Bedürfniß einzelner Sänger und Sängerinnen:c., ausgeübt haben.
Zwar verfällt er keineswegs in den Wahn, Mozarts Werke gewissermaßen als
einen chemischen Niederschlag aus diesen Grundstoffen zu betrachten; er weiß
sehr wohl, und spricht es sehr deutlich aus, daß der Genius die Haupsache
thut, daß er aus jenen Stoffen nur das Homogene aufnimmt, daß er auch
in dem scheinbar Fremden sein geistiges Eigenthum wieder findet; allein durch
das gewissenhafte StudiuM jener elementaren Stoffe ist doch nicht blos ein
Fingerzeig für den Bildungsgang des Künstlers, sondern, was hier noch wich¬
tiger ist, ein sehr bequemes Hilfsmittel gegeben, um auch sür den Leser den
genetischen Weg deutlich und fruchtbar zu machen. Mozart hat durchweg mit
einem sehr klaren und bestimmten Bewußtsein über seinen Zweck und seine
Mittel gearbeitet; freilich nicht nach Art der modernen Kunstphilysophen, und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0229" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/102824"/>
          <p xml:id="ID_748" prev="#ID_747"> bei einem Kunstwerk das Wesentliche liegt, dasjenige, was es zum Kunstwerk<lb/>
macht, sondern er ist auch im Stande, seinen Lesern deutlich ztt machen, wa¬<lb/>
rum es daS Wesentliche ist; freilich nicht Lesern vom gewöhnlichen Schlage,<lb/>
sondern nur solchen, die sich bereits ernsthaft mit der Musik beschäftigt haben.<lb/>
Aber deren ist doch jetzt eine große Zahl; und wie sehr wir auch grade in der<lb/>
Musik durch einen schwächlichen unproductiven Dilettantismus gepeinigt werden,<lb/>
so gibt es grade hier eine nicht geringe Zahl von Dilettanten, die in Bezug<lb/>
auf feines Verständniß sich den tüchtigsten ausübenden Musikern an die Seite<lb/>
stellen können. Abgesehen von dieser scharfen Hervorhebung des Wesentlichen<lb/>
und Charakteristischen, hat der Verfasser mit Recht erkannt, daß, wenn die<lb/>
Beschreibung eines so schwer darzustellenden Gegenstandes überhaupt einen<lb/>
Sinn haben soll, sie sehr ausführlich sein und in die Einzelheiten eingehen<lb/>
muß. Er gibt daher jene vornehme Kürze, die mit einzelnen geistvollen Be¬<lb/>
merkungen das Kunstwerk abgefertigt zu haben glaubt, durchweg auf und spart<lb/>
die Worte nicht; aber freilich gebraucht er nur solche Worte, die wirklich etwas<lb/>
sagen. Leser, die Bücher nur aufschlagen, um sich einige Phrasen sür<lb/>
die Conversation anzueignen, wie sie das aus den hoffmannschen Phantasie¬<lb/>
stücken gewöhnt sind, haben sich über die Ausführlichkeit mancher Abschnitte<lb/>
des ersten Bandes beschwert; aber wem es wirklich darum zu thun ist, sich<lb/>
voll dem Gegenstand ein erschöpfendes Bild zu machen, wird ihm für diese<lb/>
Ausführlichkeit aufrichtigen Dank sagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_749" next="#ID_750"> Der Verfasser hat noch ein Hilfsmittel angewendet, welches freilich nicht<lb/>
bei jedem Componisten in dieser Ausdehnung hätte durchgeführt werden können;<lb/>
er sucht nämlich, wo es irgend angeht, an Stelle der descnptiven Form die<lb/>
genetische Entwicklung zu setzen. Er hat sich keine Mühe verdrießen lassen,<lb/>
den Einflüssen nachzuspüren, welche auf Mozart zunächst die väterliche Vor¬<lb/>
bildung, dann der Umgang mit bedeutenden Menschen, das Studium classischer<lb/>
Werke, das Bedürfniß einzelner Sänger und Sängerinnen:c., ausgeübt haben.<lb/>
Zwar verfällt er keineswegs in den Wahn, Mozarts Werke gewissermaßen als<lb/>
einen chemischen Niederschlag aus diesen Grundstoffen zu betrachten; er weiß<lb/>
sehr wohl, und spricht es sehr deutlich aus, daß der Genius die Haupsache<lb/>
thut, daß er aus jenen Stoffen nur das Homogene aufnimmt, daß er auch<lb/>
in dem scheinbar Fremden sein geistiges Eigenthum wieder findet; allein durch<lb/>
das gewissenhafte StudiuM jener elementaren Stoffe ist doch nicht blos ein<lb/>
Fingerzeig für den Bildungsgang des Künstlers, sondern, was hier noch wich¬<lb/>
tiger ist, ein sehr bequemes Hilfsmittel gegeben, um auch sür den Leser den<lb/>
genetischen Weg deutlich und fruchtbar zu machen. Mozart hat durchweg mit<lb/>
einem sehr klaren und bestimmten Bewußtsein über seinen Zweck und seine<lb/>
Mittel gearbeitet; freilich nicht nach Art der modernen Kunstphilysophen, und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0229] bei einem Kunstwerk das Wesentliche liegt, dasjenige, was es zum Kunstwerk macht, sondern er ist auch im Stande, seinen Lesern deutlich ztt machen, wa¬ rum es daS Wesentliche ist; freilich nicht Lesern vom gewöhnlichen Schlage, sondern nur solchen, die sich bereits ernsthaft mit der Musik beschäftigt haben. Aber deren ist doch jetzt eine große Zahl; und wie sehr wir auch grade in der Musik durch einen schwächlichen unproductiven Dilettantismus gepeinigt werden, so gibt es grade hier eine nicht geringe Zahl von Dilettanten, die in Bezug auf feines Verständniß sich den tüchtigsten ausübenden Musikern an die Seite stellen können. Abgesehen von dieser scharfen Hervorhebung des Wesentlichen und Charakteristischen, hat der Verfasser mit Recht erkannt, daß, wenn die Beschreibung eines so schwer darzustellenden Gegenstandes überhaupt einen Sinn haben soll, sie sehr ausführlich sein und in die Einzelheiten eingehen muß. Er gibt daher jene vornehme Kürze, die mit einzelnen geistvollen Be¬ merkungen das Kunstwerk abgefertigt zu haben glaubt, durchweg auf und spart die Worte nicht; aber freilich gebraucht er nur solche Worte, die wirklich etwas sagen. Leser, die Bücher nur aufschlagen, um sich einige Phrasen sür die Conversation anzueignen, wie sie das aus den hoffmannschen Phantasie¬ stücken gewöhnt sind, haben sich über die Ausführlichkeit mancher Abschnitte des ersten Bandes beschwert; aber wem es wirklich darum zu thun ist, sich voll dem Gegenstand ein erschöpfendes Bild zu machen, wird ihm für diese Ausführlichkeit aufrichtigen Dank sagen. Der Verfasser hat noch ein Hilfsmittel angewendet, welches freilich nicht bei jedem Componisten in dieser Ausdehnung hätte durchgeführt werden können; er sucht nämlich, wo es irgend angeht, an Stelle der descnptiven Form die genetische Entwicklung zu setzen. Er hat sich keine Mühe verdrießen lassen, den Einflüssen nachzuspüren, welche auf Mozart zunächst die väterliche Vor¬ bildung, dann der Umgang mit bedeutenden Menschen, das Studium classischer Werke, das Bedürfniß einzelner Sänger und Sängerinnen:c., ausgeübt haben. Zwar verfällt er keineswegs in den Wahn, Mozarts Werke gewissermaßen als einen chemischen Niederschlag aus diesen Grundstoffen zu betrachten; er weiß sehr wohl, und spricht es sehr deutlich aus, daß der Genius die Haupsache thut, daß er aus jenen Stoffen nur das Homogene aufnimmt, daß er auch in dem scheinbar Fremden sein geistiges Eigenthum wieder findet; allein durch das gewissenhafte StudiuM jener elementaren Stoffe ist doch nicht blos ein Fingerzeig für den Bildungsgang des Künstlers, sondern, was hier noch wich¬ tiger ist, ein sehr bequemes Hilfsmittel gegeben, um auch sür den Leser den genetischen Weg deutlich und fruchtbar zu machen. Mozart hat durchweg mit einem sehr klaren und bestimmten Bewußtsein über seinen Zweck und seine Mittel gearbeitet; freilich nicht nach Art der modernen Kunstphilysophen, und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/229
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/229>, abgerufen am 23.07.2024.