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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Enthaltsamkeit, wollen wir uns auch hier mit der Person des Verfassers > nicht
beschäftigen, die ohnehin kein erhebliches Interesse bietet. Als Schriftsteller
möchten wir ihn insofern tadeln, als er die Neigung hat, was ein anderer mit
einem einfachen Komma sagt, zu mehren Seiten auszuspinnen, seine Sätze häu¬
fig zu wiederholen, die Constructionen künstlich zu verschränken, so daß man
nur mit Mühe erfährt, was er eigentlich sagen will. Indessen mögen manche
von diesen schriftstellerischen Schwächen der Tendenz des Verfassers wenigstens
nicht nachtheilig sein, da ihm daran zu liegen scheint, über seine eignen An¬
sichten einen Nebel zu breiten, in dem man bei dem besten Willen nicht den
Weg findet.

"Sage mir, wie du über Preußens Beruf denkst, und ich will dir sage'n,
wer du bist, als Politiker, ja selbst als Historiker." So beginnt S! 1-1-I der
Verfasser seine Polemik gegen Droysen. Auch wir möchten einen ähnlichen
Satz aufstellen, wenigstens für den deutschen Politiker, denn was man über
Preußens Beruf denkt, ist entscheidend für die Vorstellung von der Fortent¬
wicklung Deutschlands. -- Nun begegnet unserm Verfasser in der Entwicklung
des Verhältnisses zwischen der Geschichtschreibung und der wirklichen Politik
ein wunderliches Mißgeschick. Nach seiner Ueberzeugung ist die Politik Preu¬
ßens von dem ersten Ursprung des Staats an bis zur Gegenwart eine trau¬
rige Mischung von Ungerechtigkeit und Schwäche gewesen; alles, was Preu¬
ßen gethan, ist zum Nachtheil Deutschlands geschehn, Und bei seiner macchia-
vellistischen Politik würde Preußen dem deutschen Vaterlande noch viel schlim¬
mere Wunden geschlagen haben, wenn nicht meistens die Leitung des Staats
schwankend, schwach und ohnmächtig gewesen wäre. --- Woher dann aber das
höchst auffallende Ereigniß, daß seit mehr als hundert Jahren alle deutschen
Schriftsteller, Geschichtschreiber, Publicisten, Dichter u. s. w., das Gegentheil
von dem behaupten, was Herr Jürgens meint; daß also das Urtheil des
deutschen Publicums durch eine große allgemeine literarische Verschwörung cor-
rumpirt worden ist. -- Herr Jürgens macht nicht den Versuch, dieses auf¬
fallende Phänomen zu erklären. Er läßt zwar hin und wieder mit frommem
Augenverdrehen die Meinung durchblicken, es möge wol viel Bestechung mit
unterlaufen, aber gradezu wagt er es denn doch .nicht zu behaupten. Das
Einzige, was er angibt, ist, daß die Professoren Herr in Preußen angestellt
wurden. Woher mag denn das wol kommen? Woher mag es wol kommen,
daß noch heute ein Universitätslehrer, dem gleichzeitig eine Stelle in Preußen
und eine in München, oder in Gießen, oder in Erlangen -- um von Wien
garnicht zu reden -- angeboten wird, unter gleichen äußerlichen Bedingungen,
ja selbst wenn die preußischen Bedingungen viel schwächer sind, dennoch keinen
Anstand nehmen wird, sich für Preußen zu entscheiden?

Wenn wir diese Erscheinungen scharf ins Auge fassen, so wäre selbst für


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Enthaltsamkeit, wollen wir uns auch hier mit der Person des Verfassers > nicht
beschäftigen, die ohnehin kein erhebliches Interesse bietet. Als Schriftsteller
möchten wir ihn insofern tadeln, als er die Neigung hat, was ein anderer mit
einem einfachen Komma sagt, zu mehren Seiten auszuspinnen, seine Sätze häu¬
fig zu wiederholen, die Constructionen künstlich zu verschränken, so daß man
nur mit Mühe erfährt, was er eigentlich sagen will. Indessen mögen manche
von diesen schriftstellerischen Schwächen der Tendenz des Verfassers wenigstens
nicht nachtheilig sein, da ihm daran zu liegen scheint, über seine eignen An¬
sichten einen Nebel zu breiten, in dem man bei dem besten Willen nicht den
Weg findet.

„Sage mir, wie du über Preußens Beruf denkst, und ich will dir sage'n,
wer du bist, als Politiker, ja selbst als Historiker." So beginnt S! 1-1-I der
Verfasser seine Polemik gegen Droysen. Auch wir möchten einen ähnlichen
Satz aufstellen, wenigstens für den deutschen Politiker, denn was man über
Preußens Beruf denkt, ist entscheidend für die Vorstellung von der Fortent¬
wicklung Deutschlands. — Nun begegnet unserm Verfasser in der Entwicklung
des Verhältnisses zwischen der Geschichtschreibung und der wirklichen Politik
ein wunderliches Mißgeschick. Nach seiner Ueberzeugung ist die Politik Preu¬
ßens von dem ersten Ursprung des Staats an bis zur Gegenwart eine trau¬
rige Mischung von Ungerechtigkeit und Schwäche gewesen; alles, was Preu¬
ßen gethan, ist zum Nachtheil Deutschlands geschehn, Und bei seiner macchia-
vellistischen Politik würde Preußen dem deutschen Vaterlande noch viel schlim¬
mere Wunden geschlagen haben, wenn nicht meistens die Leitung des Staats
schwankend, schwach und ohnmächtig gewesen wäre. -— Woher dann aber das
höchst auffallende Ereigniß, daß seit mehr als hundert Jahren alle deutschen
Schriftsteller, Geschichtschreiber, Publicisten, Dichter u. s. w., das Gegentheil
von dem behaupten, was Herr Jürgens meint; daß also das Urtheil des
deutschen Publicums durch eine große allgemeine literarische Verschwörung cor-
rumpirt worden ist. — Herr Jürgens macht nicht den Versuch, dieses auf¬
fallende Phänomen zu erklären. Er läßt zwar hin und wieder mit frommem
Augenverdrehen die Meinung durchblicken, es möge wol viel Bestechung mit
unterlaufen, aber gradezu wagt er es denn doch .nicht zu behaupten. Das
Einzige, was er angibt, ist, daß die Professoren Herr in Preußen angestellt
wurden. Woher mag denn das wol kommen? Woher mag es wol kommen,
daß noch heute ein Universitätslehrer, dem gleichzeitig eine Stelle in Preußen
und eine in München, oder in Gießen, oder in Erlangen — um von Wien
garnicht zu reden — angeboten wird, unter gleichen äußerlichen Bedingungen,
ja selbst wenn die preußischen Bedingungen viel schwächer sind, dennoch keinen
Anstand nehmen wird, sich für Preußen zu entscheiden?

Wenn wir diese Erscheinungen scharf ins Auge fassen, so wäre selbst für


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[0219] Enthaltsamkeit, wollen wir uns auch hier mit der Person des Verfassers > nicht beschäftigen, die ohnehin kein erhebliches Interesse bietet. Als Schriftsteller möchten wir ihn insofern tadeln, als er die Neigung hat, was ein anderer mit einem einfachen Komma sagt, zu mehren Seiten auszuspinnen, seine Sätze häu¬ fig zu wiederholen, die Constructionen künstlich zu verschränken, so daß man nur mit Mühe erfährt, was er eigentlich sagen will. Indessen mögen manche von diesen schriftstellerischen Schwächen der Tendenz des Verfassers wenigstens nicht nachtheilig sein, da ihm daran zu liegen scheint, über seine eignen An¬ sichten einen Nebel zu breiten, in dem man bei dem besten Willen nicht den Weg findet. „Sage mir, wie du über Preußens Beruf denkst, und ich will dir sage'n, wer du bist, als Politiker, ja selbst als Historiker." So beginnt S! 1-1-I der Verfasser seine Polemik gegen Droysen. Auch wir möchten einen ähnlichen Satz aufstellen, wenigstens für den deutschen Politiker, denn was man über Preußens Beruf denkt, ist entscheidend für die Vorstellung von der Fortent¬ wicklung Deutschlands. — Nun begegnet unserm Verfasser in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Geschichtschreibung und der wirklichen Politik ein wunderliches Mißgeschick. Nach seiner Ueberzeugung ist die Politik Preu¬ ßens von dem ersten Ursprung des Staats an bis zur Gegenwart eine trau¬ rige Mischung von Ungerechtigkeit und Schwäche gewesen; alles, was Preu¬ ßen gethan, ist zum Nachtheil Deutschlands geschehn, Und bei seiner macchia- vellistischen Politik würde Preußen dem deutschen Vaterlande noch viel schlim¬ mere Wunden geschlagen haben, wenn nicht meistens die Leitung des Staats schwankend, schwach und ohnmächtig gewesen wäre. -— Woher dann aber das höchst auffallende Ereigniß, daß seit mehr als hundert Jahren alle deutschen Schriftsteller, Geschichtschreiber, Publicisten, Dichter u. s. w., das Gegentheil von dem behaupten, was Herr Jürgens meint; daß also das Urtheil des deutschen Publicums durch eine große allgemeine literarische Verschwörung cor- rumpirt worden ist. — Herr Jürgens macht nicht den Versuch, dieses auf¬ fallende Phänomen zu erklären. Er läßt zwar hin und wieder mit frommem Augenverdrehen die Meinung durchblicken, es möge wol viel Bestechung mit unterlaufen, aber gradezu wagt er es denn doch .nicht zu behaupten. Das Einzige, was er angibt, ist, daß die Professoren Herr in Preußen angestellt wurden. Woher mag denn das wol kommen? Woher mag es wol kommen, daß noch heute ein Universitätslehrer, dem gleichzeitig eine Stelle in Preußen und eine in München, oder in Gießen, oder in Erlangen — um von Wien garnicht zu reden — angeboten wird, unter gleichen äußerlichen Bedingungen, ja selbst wenn die preußischen Bedingungen viel schwächer sind, dennoch keinen Anstand nehmen wird, sich für Preußen zu entscheiden? Wenn wir diese Erscheinungen scharf ins Auge fassen, so wäre selbst für 27*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/219>, abgerufen am 23.07.2024.