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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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die erwachende Neigung zu einem principiellen und theoretischen Verfahren, zu
Unterscheidungen und Gegensätzen der Formen. Beide Richtungen, die phan¬
tastisch-ritterliche und die pedantisch-scholastische, traten indessen in dieser Epoche
noch nicht einseitig und störend hervor; sie standen noch völlig unter der Herr¬
schaft sowol des religiösen Geistes als der Naturkraft des Volkes, und der
durch beide bedingten Einheit des Gefühls. Die Architekten waren eben schlichte,
aus dem Handwerk hervorgegangene Meister, die sich jm Dienste der Kirche
fühlten und zunächst mit ihrer technischen Aufgabe vollauf zu thun hatten.
Sie verfuhren zwar freier als die früheren geistlichen Baumeister, sie kamen
nicht aus der Klosterschule, waren nicht von den Traditionen der Antike be¬
herrscht, liebten es, sich in neuen Erfindungen zu versuchen. Aber sie waren
Empiriker, die nicht luftigen Theorien folgten, sondern von der ^erlernten Form
ausgingen, diese nur zu verbessern suchten und sich daher mit langsamen
Schritten von ihr entfernten. Sie führten überdies selbst den Meißel, ihve
Hand hatte sich mit dem Steine vertraut gemacht, ihm die Formen abgelernt,
.welche ihm am natürlichsten waren ; sie dachten gleichsam im Geiste des Ma¬
terials. Daher der unschätzbare Vorzug ihrer Arbeiten, daß sie nichts verhüllten,
daß alle ihre Formen eine unmittelbare, natürliche Wahrheit hatten. Ueberdies
gingen sie aus dem Volke hervor, und zwar aus einem Volke von noch sehr
einfachen Sitten, das der Natur nahe stand und mit ihrer Weise der
Production bekannt war; sie bildeten daher ein so seines Gefühl für orga¬
nische Entwicklung der Form aus, wie eS mit Ausnahme der Griechen kein
anderes Volk gehabt hatte. Ihre Werke machen den Eindruck innerer Noth¬
wendigkeit, sie scheinen aus dem Boden zu wachsen, wie die Erzeugnisse der
Natur selbst. Die Willkür, welche in den Ritterdichtungen Herrschi und ihnen
selbst einen Reiz verleiht, fand hier keine Stelle. Um so merkwürdiger ist es,
daß diese schlichten Meister das kühne und künstliche Constructionssystem des
gothischen Stiles erfanden, welches dem Steine statt der horizontalen Lagerung
auf der Fläche des Erdbodens den Ausdruck aufstrebender Kraft verleiht, und
so von den unmittelbaren Andeutungen der Natur weit abweicht. Allerdings
lag diesem luftigen Systeme eine weise Benutzung statischer Gesetze zum Grunde,
und es entstand nicht aus theoretischem Uebermuth-oder aus symbolischen Rück¬
sichten; aber es konnte nur in einer Zeit entstehen, welche an künstliche Sy¬
steme gewöhnt war, welche auch in der Wirklichkeit über die gemeine Natur
hinwegsah, und sich eine Welt von Ansichten und Sitten erschuf, die auf küh¬
nen Voraussetzungen beruhte und durch künstliche Mittel zusammengehalten
wurde, und gibt einen höchst merkwürdigen Beweis der schweigenden, aber
mächtigen Einwirkung, welche die geistige Richtung der Zeit selbst auf die sta¬
tischen Grundlagen rer Architektur ausübt. --

Ist nun diese Entwicklung der culturhistorischen Beziehungen die glän-


Grenzbvten. IV. -18os. 27

die erwachende Neigung zu einem principiellen und theoretischen Verfahren, zu
Unterscheidungen und Gegensätzen der Formen. Beide Richtungen, die phan¬
tastisch-ritterliche und die pedantisch-scholastische, traten indessen in dieser Epoche
noch nicht einseitig und störend hervor; sie standen noch völlig unter der Herr¬
schaft sowol des religiösen Geistes als der Naturkraft des Volkes, und der
durch beide bedingten Einheit des Gefühls. Die Architekten waren eben schlichte,
aus dem Handwerk hervorgegangene Meister, die sich jm Dienste der Kirche
fühlten und zunächst mit ihrer technischen Aufgabe vollauf zu thun hatten.
Sie verfuhren zwar freier als die früheren geistlichen Baumeister, sie kamen
nicht aus der Klosterschule, waren nicht von den Traditionen der Antike be¬
herrscht, liebten es, sich in neuen Erfindungen zu versuchen. Aber sie waren
Empiriker, die nicht luftigen Theorien folgten, sondern von der ^erlernten Form
ausgingen, diese nur zu verbessern suchten und sich daher mit langsamen
Schritten von ihr entfernten. Sie führten überdies selbst den Meißel, ihve
Hand hatte sich mit dem Steine vertraut gemacht, ihm die Formen abgelernt,
.welche ihm am natürlichsten waren ; sie dachten gleichsam im Geiste des Ma¬
terials. Daher der unschätzbare Vorzug ihrer Arbeiten, daß sie nichts verhüllten,
daß alle ihre Formen eine unmittelbare, natürliche Wahrheit hatten. Ueberdies
gingen sie aus dem Volke hervor, und zwar aus einem Volke von noch sehr
einfachen Sitten, das der Natur nahe stand und mit ihrer Weise der
Production bekannt war; sie bildeten daher ein so seines Gefühl für orga¬
nische Entwicklung der Form aus, wie eS mit Ausnahme der Griechen kein
anderes Volk gehabt hatte. Ihre Werke machen den Eindruck innerer Noth¬
wendigkeit, sie scheinen aus dem Boden zu wachsen, wie die Erzeugnisse der
Natur selbst. Die Willkür, welche in den Ritterdichtungen Herrschi und ihnen
selbst einen Reiz verleiht, fand hier keine Stelle. Um so merkwürdiger ist es,
daß diese schlichten Meister das kühne und künstliche Constructionssystem des
gothischen Stiles erfanden, welches dem Steine statt der horizontalen Lagerung
auf der Fläche des Erdbodens den Ausdruck aufstrebender Kraft verleiht, und
so von den unmittelbaren Andeutungen der Natur weit abweicht. Allerdings
lag diesem luftigen Systeme eine weise Benutzung statischer Gesetze zum Grunde,
und es entstand nicht aus theoretischem Uebermuth-oder aus symbolischen Rück¬
sichten; aber es konnte nur in einer Zeit entstehen, welche an künstliche Sy¬
steme gewöhnt war, welche auch in der Wirklichkeit über die gemeine Natur
hinwegsah, und sich eine Welt von Ansichten und Sitten erschuf, die auf küh¬
nen Voraussetzungen beruhte und durch künstliche Mittel zusammengehalten
wurde, und gibt einen höchst merkwürdigen Beweis der schweigenden, aber
mächtigen Einwirkung, welche die geistige Richtung der Zeit selbst auf die sta¬
tischen Grundlagen rer Architektur ausübt. —

Ist nun diese Entwicklung der culturhistorischen Beziehungen die glän-


Grenzbvten. IV. -18os. 27
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[0217] die erwachende Neigung zu einem principiellen und theoretischen Verfahren, zu Unterscheidungen und Gegensätzen der Formen. Beide Richtungen, die phan¬ tastisch-ritterliche und die pedantisch-scholastische, traten indessen in dieser Epoche noch nicht einseitig und störend hervor; sie standen noch völlig unter der Herr¬ schaft sowol des religiösen Geistes als der Naturkraft des Volkes, und der durch beide bedingten Einheit des Gefühls. Die Architekten waren eben schlichte, aus dem Handwerk hervorgegangene Meister, die sich jm Dienste der Kirche fühlten und zunächst mit ihrer technischen Aufgabe vollauf zu thun hatten. Sie verfuhren zwar freier als die früheren geistlichen Baumeister, sie kamen nicht aus der Klosterschule, waren nicht von den Traditionen der Antike be¬ herrscht, liebten es, sich in neuen Erfindungen zu versuchen. Aber sie waren Empiriker, die nicht luftigen Theorien folgten, sondern von der ^erlernten Form ausgingen, diese nur zu verbessern suchten und sich daher mit langsamen Schritten von ihr entfernten. Sie führten überdies selbst den Meißel, ihve Hand hatte sich mit dem Steine vertraut gemacht, ihm die Formen abgelernt, .welche ihm am natürlichsten waren ; sie dachten gleichsam im Geiste des Ma¬ terials. Daher der unschätzbare Vorzug ihrer Arbeiten, daß sie nichts verhüllten, daß alle ihre Formen eine unmittelbare, natürliche Wahrheit hatten. Ueberdies gingen sie aus dem Volke hervor, und zwar aus einem Volke von noch sehr einfachen Sitten, das der Natur nahe stand und mit ihrer Weise der Production bekannt war; sie bildeten daher ein so seines Gefühl für orga¬ nische Entwicklung der Form aus, wie eS mit Ausnahme der Griechen kein anderes Volk gehabt hatte. Ihre Werke machen den Eindruck innerer Noth¬ wendigkeit, sie scheinen aus dem Boden zu wachsen, wie die Erzeugnisse der Natur selbst. Die Willkür, welche in den Ritterdichtungen Herrschi und ihnen selbst einen Reiz verleiht, fand hier keine Stelle. Um so merkwürdiger ist es, daß diese schlichten Meister das kühne und künstliche Constructionssystem des gothischen Stiles erfanden, welches dem Steine statt der horizontalen Lagerung auf der Fläche des Erdbodens den Ausdruck aufstrebender Kraft verleiht, und so von den unmittelbaren Andeutungen der Natur weit abweicht. Allerdings lag diesem luftigen Systeme eine weise Benutzung statischer Gesetze zum Grunde, und es entstand nicht aus theoretischem Uebermuth-oder aus symbolischen Rück¬ sichten; aber es konnte nur in einer Zeit entstehen, welche an künstliche Sy¬ steme gewöhnt war, welche auch in der Wirklichkeit über die gemeine Natur hinwegsah, und sich eine Welt von Ansichten und Sitten erschuf, die auf küh¬ nen Voraussetzungen beruhte und durch künstliche Mittel zusammengehalten wurde, und gibt einen höchst merkwürdigen Beweis der schweigenden, aber mächtigen Einwirkung, welche die geistige Richtung der Zeit selbst auf die sta¬ tischen Grundlagen rer Architektur ausübt. — Ist nun diese Entwicklung der culturhistorischen Beziehungen die glän- Grenzbvten. IV. -18os. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/217>, abgerufen am 23.07.2024.