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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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bete des heiligen Paris verkauft und betrat man den Kirchhof, so sah man
nicht allein auf dem Grabe, sondern auch über den ganzen kleinen Kirchhof,
der von der Kirche umschlossen war, ja in letzterer selbst und sogar in den
Beinhäusern Zuckende daliegen, wahrend Polizeibeamte, nur um die Ordnung
aufrecht zu erhalten, zugegen waren.

Die Negierung ließ die Sache von einer Commission der geachtetsten
Aerzte untersuchen; verschiedene Personen wurden verhaftet und derselben vor¬
gestellt, alle zeigten sich als Simulanten; es wurde darauf die Schließung
des kleinen Kirchhofs durch königlichen Befehl angeordnet. Bei dieser Ge¬
legenheit sollen an das Thor die bekannten Verse angeschlagen gewesen sein:


of par Is Roi <ZsKmss s, visu
Os tÄii'ö wiraolö s" os Uhu.*)

Aufgestellte Polizeiwachen verhinderten, daß in der Kirche oder aus dem äuße¬
ren großen Kirchhofe Convulsionen vorkämen und so schien die ganze Sache
beendet.

Aber der Unfug wurde vielmehr durch diese Maßregel noch gesteigert,
denn die Convulsionärs zogen sich nun in die Privathäuser zurück und es
genügte ein wenig Erde vom Grabe oder sonst eine Reliquie des Paris, um
ihre Zuckungen zu veranlassen, später bedurften sie auch solcher Dinge nicht
mehr, die Convulsionen kamen, wenn man sie gebrauchte. Zugleich nahmen
aber die Erscheinungen eine ganz andere Wendung, die Simulation von
Zuckungen trat in den Hintergrund und was man später Convulsionen nannte,
waren die mannigfaltigsten und seltsamsten Possen und Narrenstreiche. Wäh¬
rend früher auf dem Kirchhofe Männer und Frauen etwa in gleicher Zahl
gezuckt hatten, beschäftigten sich jetzt die letzteren ganz vorzugsweise damit und
die ersteren waren besonders nur dazu da, um jenen die sogenannten Hilfs¬
leistungen (secours) angedeihen zu lassen, welche ebenso sonderbar waren, als
die angeblichen übernatürlichen Eingebungen selbst. Vorzüglich traten dabei
die geschlechtlichen Beziehungen in den Vordergrund und in dieser Hinsicht
geschah das Unglaublichste.

"Personen beiderlei Geschlechts," sagte der Erzbischof von Sens, Joseph
Languet, "meist aber Frauen und Mädchen, großentheils sehr jung, haben
jeden Tag oder an gewissen Tagen und zu gewissen Stunden in Privathäu¬
sern regelmäßige Anfälle, welche ihre Freunde zu sehen und zu bewundern
kommen. Diese Versammlungen sind heimlich, gewöhnlich Abends und bis
spät in die Nacht. Man recitirt dort Psalmen und Gebete, die Convulsionärin
wird plötzlich von Zuckungen ergriffen, fällt aus eine Matratze, rollt sich aus
der Erde; um sie zu erleichtern muß man sie schlagen, drücken, aufhängen,



*) Im Namen des Königs wird es Gott verboten, hier Wunder zu thun.
Grenzboten. IV. 18S6. SO

bete des heiligen Paris verkauft und betrat man den Kirchhof, so sah man
nicht allein auf dem Grabe, sondern auch über den ganzen kleinen Kirchhof,
der von der Kirche umschlossen war, ja in letzterer selbst und sogar in den
Beinhäusern Zuckende daliegen, wahrend Polizeibeamte, nur um die Ordnung
aufrecht zu erhalten, zugegen waren.

Die Negierung ließ die Sache von einer Commission der geachtetsten
Aerzte untersuchen; verschiedene Personen wurden verhaftet und derselben vor¬
gestellt, alle zeigten sich als Simulanten; es wurde darauf die Schließung
des kleinen Kirchhofs durch königlichen Befehl angeordnet. Bei dieser Ge¬
legenheit sollen an das Thor die bekannten Verse angeschlagen gewesen sein:


of par Is Roi <ZsKmss s, visu
Os tÄii'ö wiraolö s» os Uhu.*)

Aufgestellte Polizeiwachen verhinderten, daß in der Kirche oder aus dem äuße¬
ren großen Kirchhofe Convulsionen vorkämen und so schien die ganze Sache
beendet.

Aber der Unfug wurde vielmehr durch diese Maßregel noch gesteigert,
denn die Convulsionärs zogen sich nun in die Privathäuser zurück und es
genügte ein wenig Erde vom Grabe oder sonst eine Reliquie des Paris, um
ihre Zuckungen zu veranlassen, später bedurften sie auch solcher Dinge nicht
mehr, die Convulsionen kamen, wenn man sie gebrauchte. Zugleich nahmen
aber die Erscheinungen eine ganz andere Wendung, die Simulation von
Zuckungen trat in den Hintergrund und was man später Convulsionen nannte,
waren die mannigfaltigsten und seltsamsten Possen und Narrenstreiche. Wäh¬
rend früher auf dem Kirchhofe Männer und Frauen etwa in gleicher Zahl
gezuckt hatten, beschäftigten sich jetzt die letzteren ganz vorzugsweise damit und
die ersteren waren besonders nur dazu da, um jenen die sogenannten Hilfs¬
leistungen (secours) angedeihen zu lassen, welche ebenso sonderbar waren, als
die angeblichen übernatürlichen Eingebungen selbst. Vorzüglich traten dabei
die geschlechtlichen Beziehungen in den Vordergrund und in dieser Hinsicht
geschah das Unglaublichste.

„Personen beiderlei Geschlechts," sagte der Erzbischof von Sens, Joseph
Languet, „meist aber Frauen und Mädchen, großentheils sehr jung, haben
jeden Tag oder an gewissen Tagen und zu gewissen Stunden in Privathäu¬
sern regelmäßige Anfälle, welche ihre Freunde zu sehen und zu bewundern
kommen. Diese Versammlungen sind heimlich, gewöhnlich Abends und bis
spät in die Nacht. Man recitirt dort Psalmen und Gebete, die Convulsionärin
wird plötzlich von Zuckungen ergriffen, fällt aus eine Matratze, rollt sich aus
der Erde; um sie zu erleichtern muß man sie schlagen, drücken, aufhängen,



*) Im Namen des Königs wird es Gott verboten, hier Wunder zu thun.
Grenzboten. IV. 18S6. SO
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[0161] bete des heiligen Paris verkauft und betrat man den Kirchhof, so sah man nicht allein auf dem Grabe, sondern auch über den ganzen kleinen Kirchhof, der von der Kirche umschlossen war, ja in letzterer selbst und sogar in den Beinhäusern Zuckende daliegen, wahrend Polizeibeamte, nur um die Ordnung aufrecht zu erhalten, zugegen waren. Die Negierung ließ die Sache von einer Commission der geachtetsten Aerzte untersuchen; verschiedene Personen wurden verhaftet und derselben vor¬ gestellt, alle zeigten sich als Simulanten; es wurde darauf die Schließung des kleinen Kirchhofs durch königlichen Befehl angeordnet. Bei dieser Ge¬ legenheit sollen an das Thor die bekannten Verse angeschlagen gewesen sein: of par Is Roi <ZsKmss s, visu Os tÄii'ö wiraolö s» os Uhu.*) Aufgestellte Polizeiwachen verhinderten, daß in der Kirche oder aus dem äuße¬ ren großen Kirchhofe Convulsionen vorkämen und so schien die ganze Sache beendet. Aber der Unfug wurde vielmehr durch diese Maßregel noch gesteigert, denn die Convulsionärs zogen sich nun in die Privathäuser zurück und es genügte ein wenig Erde vom Grabe oder sonst eine Reliquie des Paris, um ihre Zuckungen zu veranlassen, später bedurften sie auch solcher Dinge nicht mehr, die Convulsionen kamen, wenn man sie gebrauchte. Zugleich nahmen aber die Erscheinungen eine ganz andere Wendung, die Simulation von Zuckungen trat in den Hintergrund und was man später Convulsionen nannte, waren die mannigfaltigsten und seltsamsten Possen und Narrenstreiche. Wäh¬ rend früher auf dem Kirchhofe Männer und Frauen etwa in gleicher Zahl gezuckt hatten, beschäftigten sich jetzt die letzteren ganz vorzugsweise damit und die ersteren waren besonders nur dazu da, um jenen die sogenannten Hilfs¬ leistungen (secours) angedeihen zu lassen, welche ebenso sonderbar waren, als die angeblichen übernatürlichen Eingebungen selbst. Vorzüglich traten dabei die geschlechtlichen Beziehungen in den Vordergrund und in dieser Hinsicht geschah das Unglaublichste. „Personen beiderlei Geschlechts," sagte der Erzbischof von Sens, Joseph Languet, „meist aber Frauen und Mädchen, großentheils sehr jung, haben jeden Tag oder an gewissen Tagen und zu gewissen Stunden in Privathäu¬ sern regelmäßige Anfälle, welche ihre Freunde zu sehen und zu bewundern kommen. Diese Versammlungen sind heimlich, gewöhnlich Abends und bis spät in die Nacht. Man recitirt dort Psalmen und Gebete, die Convulsionärin wird plötzlich von Zuckungen ergriffen, fällt aus eine Matratze, rollt sich aus der Erde; um sie zu erleichtern muß man sie schlagen, drücken, aufhängen, *) Im Namen des Königs wird es Gott verboten, hier Wunder zu thun. Grenzboten. IV. 18S6. SO

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/161>, abgerufen am 23.07.2024.