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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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und zersplittert vor ihnen liegt, kann man keinen Augenblick dafür stehen, daß
nicht das Princip den Interessen weichen muß.

Es ist nicht blos das gesteigerte Nationalgefühl, was wir aus einer Dar¬
stellung unsrer Freiheitskriege zu schöpfen haben, nicht blos daS stolze Be¬
wußtsein, wenigstens einmal in unsrer Geschichte mit selbstständiger Kraft
Großes gewagt und gewollt zu haben, sondern vor allen Dingen eine klare
Einsicht in die Zustände, die unsre Schwäche und Hilflosigkeit bedingen, und
in den einzigen Weg, der ihnen Abhilfe verheißt. Denn jene Zustande sind
nicht von heute oder gestern. Dieselben Ursachen, welche es damals dem
französischen Eroberer möglich machten, in dem Herzen Deuschlands festen Fuß
zu fassen und sich mit dem russischen Kaiser gewissermaßen über die Theilung
der Beute zu verständigen, sind noch heute vorhanden. Der Unterschied ist
nur, daß wir heute wissen, woran es uns fehlt, und daß dieses Wissen "U-
mälig im Begriff ist, sich in Gefühl und Jnstinct zu verwandeln. Der Jn-
stinct des Volks ist aber ein Facior der Geschichte, den keine diplomatische
Schlauheit beseitigen wird.

Das Buch des Major Beitzke ist mit einer ungewöhnlichen Theilnahme
aufgenommen, und es verdient dieselbe in hohem Grade. Der Verfasser ist
nicht, was man gewöhnlich einen geistreichen Mann nennt; er überrascht uns
nicht durch ungewöhnliche, schlagende Gesichtspunkte, er ist ein schlichter, ein¬
facher Soldat, der sein Handwerk gehörig versteht und der Sprache so weit
mächtig ist, um uns das, was er weiß, klar und durchsichtig darzustellen; der
Mühe und Sorgfalt darauf verwandt hat, sich aus Erzählungen und Docu-
menten in die Thatsachen, die er erzählen will, eine vollständige Einsicht zu
verschaffen, der aber niemals mit einer unnützen militärischen Gelehrsamkeit
Prunke, welche den Leser doch nur verwirrt, statt ihn aufzuklären. Vor allem
aber, er ist ein ehrliches, biederes Herz, von seinen Ueberzeugungen innig
durchdrungen und gewappnet gegen alle Sophismen einer überweisen Staats-
klugheit. Er steht das Ziel der Geschichte klar vor sich und hat den Muth,
es unumwunden auszusprechen. "Vernunft und unser eigner überschwenglicher
Vortheil fordern die Einheit; in der Reibung der Kräfte der großen Völker
Europas kann ein preußischer, bairischer, würtembergischer, reußischer Patrio¬
tismus nicht mehr genügen. Der erste Versuch zur Einheit ist mißlungen und
eS ist naturgemäß eine 'Abspannung erfolgt. Eine unabweisbare innere Natur¬
notwendigkeit wird aber dahin führen, den Versuch mit verstärkten Kräften zu,
wiederholen, bis er gelingt oder die Deutschen aus der Reihe der unabhän¬
gigen Völker für immer verschwinden."

Es ist sehr zu bedauern, daß der Verfasser den Feldzug von 1850 nicht
gleichfalls in seinen Plan mit aufgenommen hat. Die Gründe, die er dafür
in der Vorrede angibt, sind nicht stichhaltig, und wie das Buch uns jetzt vor-


und zersplittert vor ihnen liegt, kann man keinen Augenblick dafür stehen, daß
nicht das Princip den Interessen weichen muß.

Es ist nicht blos das gesteigerte Nationalgefühl, was wir aus einer Dar¬
stellung unsrer Freiheitskriege zu schöpfen haben, nicht blos daS stolze Be¬
wußtsein, wenigstens einmal in unsrer Geschichte mit selbstständiger Kraft
Großes gewagt und gewollt zu haben, sondern vor allen Dingen eine klare
Einsicht in die Zustände, die unsre Schwäche und Hilflosigkeit bedingen, und
in den einzigen Weg, der ihnen Abhilfe verheißt. Denn jene Zustande sind
nicht von heute oder gestern. Dieselben Ursachen, welche es damals dem
französischen Eroberer möglich machten, in dem Herzen Deuschlands festen Fuß
zu fassen und sich mit dem russischen Kaiser gewissermaßen über die Theilung
der Beute zu verständigen, sind noch heute vorhanden. Der Unterschied ist
nur, daß wir heute wissen, woran es uns fehlt, und daß dieses Wissen «U-
mälig im Begriff ist, sich in Gefühl und Jnstinct zu verwandeln. Der Jn-
stinct des Volks ist aber ein Facior der Geschichte, den keine diplomatische
Schlauheit beseitigen wird.

Das Buch des Major Beitzke ist mit einer ungewöhnlichen Theilnahme
aufgenommen, und es verdient dieselbe in hohem Grade. Der Verfasser ist
nicht, was man gewöhnlich einen geistreichen Mann nennt; er überrascht uns
nicht durch ungewöhnliche, schlagende Gesichtspunkte, er ist ein schlichter, ein¬
facher Soldat, der sein Handwerk gehörig versteht und der Sprache so weit
mächtig ist, um uns das, was er weiß, klar und durchsichtig darzustellen; der
Mühe und Sorgfalt darauf verwandt hat, sich aus Erzählungen und Docu-
menten in die Thatsachen, die er erzählen will, eine vollständige Einsicht zu
verschaffen, der aber niemals mit einer unnützen militärischen Gelehrsamkeit
Prunke, welche den Leser doch nur verwirrt, statt ihn aufzuklären. Vor allem
aber, er ist ein ehrliches, biederes Herz, von seinen Ueberzeugungen innig
durchdrungen und gewappnet gegen alle Sophismen einer überweisen Staats-
klugheit. Er steht das Ziel der Geschichte klar vor sich und hat den Muth,
es unumwunden auszusprechen. „Vernunft und unser eigner überschwenglicher
Vortheil fordern die Einheit; in der Reibung der Kräfte der großen Völker
Europas kann ein preußischer, bairischer, würtembergischer, reußischer Patrio¬
tismus nicht mehr genügen. Der erste Versuch zur Einheit ist mißlungen und
eS ist naturgemäß eine 'Abspannung erfolgt. Eine unabweisbare innere Natur¬
notwendigkeit wird aber dahin führen, den Versuch mit verstärkten Kräften zu,
wiederholen, bis er gelingt oder die Deutschen aus der Reihe der unabhän¬
gigen Völker für immer verschwinden."

Es ist sehr zu bedauern, daß der Verfasser den Feldzug von 1850 nicht
gleichfalls in seinen Plan mit aufgenommen hat. Die Gründe, die er dafür
in der Vorrede angibt, sind nicht stichhaltig, und wie das Buch uns jetzt vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/95>, abgerufen am 27.06.2024.