Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.Jerusalems fehlen dies Mal gänzlich, wo doch die günstigste Gelegenheit vor¬ Jerusalems fehlen dies Mal gänzlich, wo doch die günstigste Gelegenheit vor¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101585"/> <p xml:id="ID_122" prev="#ID_121" next="#ID_123"> Jerusalems fehlen dies Mal gänzlich, wo doch die günstigste Gelegenheit vor¬<lb/> handen war, Fratzen aller Art anzubringen. Durch die Farbe hat nicht blos<lb/> die Deutlichkeit gewonnen, saubern auch die poetische Stimmung. So hat<lb/> z. B. die Figur, die das Kreuz emporträgt, im Carton, etwas Allegorisches, im<lb/> Gemälde selbst stimmt auch sie vollkommen zur Haltung des Ganzen und gibt<lb/> derselben erst den richtigen Abschluß. Den Werth der Composition fühlt man<lb/> so recht durch die Vergleichung heraus. Man kann sich z. B. nicht leicht<lb/> einen günstigern Gegenstand vorstellen, als den griechischen Rhapsoden, der<lb/> seinem Volke die Heldenthaten der Vorfahren erzählt, dessen Klang die untern<lb/> Gottheiten aus ihren Flüssen, Bergen und Bäumen hervorgelockt und dessen<lb/> Lied selbst die Götter vom Olymp mit Entzücken lauschen. Aber dieser Gegen¬<lb/> stand ist dem Künstler nicht in einem wirklichen Gesicht aufgegangen, sondern<lb/> er hat ihn sich Mit einer raffinirten Reflexion ausgeklügelt; jede seiner Figuren<lb/> hat eine bestimmte symbolische Beziehung, aber diese Beziehung geht nicht<lb/> natürlich aus der Idee des Ganzen hervor, sondern sie ist ein Ausfluß des<lb/> Witzes, von der melancholischen Pythia an, die träumerisch spielend den Kahn<lb/> des Sängers lenkt, bis zu dem grämlichen Sänger der orphischen Vorzeit, der<lb/> dem jüngern Concurrenten mißgünstige Blicke zuwirft. Das ganze Bild .ist<lb/> eine Mosaikarbeit aus einzelnen Einfällen; die gymnastischen Uebungen auf<lb/> der einen und die plastischen Versuche auf der andern Seite werden nicht von<lb/> einem gemeinsamen Hauch der Eingebung durchweht, sie sind von der Blässe<lb/> deS Gedankens angekränkelt und die blassen Figuren, die von der Höhe herab<lb/> den Bestrebungen der Sterblichen zuschauen, sind keine griechischen Götter. In<lb/> der Zerstörung Jerusalems sind schöne und große Züge, aber in dem Ganzen<lb/> weht ein Geist der Unruhe und mit den Äußern Mitteln ist der Künstler so<lb/> verschwenderisch umgegangen, daß von einem überwältigenden Eindruck nicht<lb/> die Rede sein kann. Der Vordergrund des Thurmbaus ist von einer wunder¬<lb/> baren Schönheit, Gestalten, Bewegungen, alles vom reinsten künstlerischen<lb/> Adel durchdrungen; desto schwächer ist der eigentlich historische Theil behandelt;<lb/> und so macht das Gemälde trotz aller Symbolik doch nur den Eindruck eines<lb/> im großen Maßstabe ausgeführten Genrebildes. So verdient die Hunnen¬<lb/> schlacht in der Reihe dieser Werke unzweifelhaft die Krone und jeder Wohl¬<lb/> gesinnte wird wünschen, daß eS dem Meister, der trotz seiner Schwächen doch<lb/> immer zu den größten Erscheinungen unsrer Zeit gehört, gelingen möchte, für<lb/> die beiden noch leeren Plätze Eingebungen zu finden, die sich dieser<lb/> großen Composition an die Seite stellen können. Da wir uns einmal im<lb/> Treppenhause befinden, so wollen wir bei dieser Gelegenheit auch versuchen,<lb/> den Fries ins Auge zu fassen, obgleich, wie schon bemerkt, sehr starke Gläser<lb/> dazu gehören, ihn zu sehen. Die Leser der Grenzboten werden sich noch an einen<lb/> Aussatz erinnern, welcher eine heftige Polemik gegen einzelne Gruppen deS</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0058]
Jerusalems fehlen dies Mal gänzlich, wo doch die günstigste Gelegenheit vor¬
handen war, Fratzen aller Art anzubringen. Durch die Farbe hat nicht blos
die Deutlichkeit gewonnen, saubern auch die poetische Stimmung. So hat
z. B. die Figur, die das Kreuz emporträgt, im Carton, etwas Allegorisches, im
Gemälde selbst stimmt auch sie vollkommen zur Haltung des Ganzen und gibt
derselben erst den richtigen Abschluß. Den Werth der Composition fühlt man
so recht durch die Vergleichung heraus. Man kann sich z. B. nicht leicht
einen günstigern Gegenstand vorstellen, als den griechischen Rhapsoden, der
seinem Volke die Heldenthaten der Vorfahren erzählt, dessen Klang die untern
Gottheiten aus ihren Flüssen, Bergen und Bäumen hervorgelockt und dessen
Lied selbst die Götter vom Olymp mit Entzücken lauschen. Aber dieser Gegen¬
stand ist dem Künstler nicht in einem wirklichen Gesicht aufgegangen, sondern
er hat ihn sich Mit einer raffinirten Reflexion ausgeklügelt; jede seiner Figuren
hat eine bestimmte symbolische Beziehung, aber diese Beziehung geht nicht
natürlich aus der Idee des Ganzen hervor, sondern sie ist ein Ausfluß des
Witzes, von der melancholischen Pythia an, die träumerisch spielend den Kahn
des Sängers lenkt, bis zu dem grämlichen Sänger der orphischen Vorzeit, der
dem jüngern Concurrenten mißgünstige Blicke zuwirft. Das ganze Bild .ist
eine Mosaikarbeit aus einzelnen Einfällen; die gymnastischen Uebungen auf
der einen und die plastischen Versuche auf der andern Seite werden nicht von
einem gemeinsamen Hauch der Eingebung durchweht, sie sind von der Blässe
deS Gedankens angekränkelt und die blassen Figuren, die von der Höhe herab
den Bestrebungen der Sterblichen zuschauen, sind keine griechischen Götter. In
der Zerstörung Jerusalems sind schöne und große Züge, aber in dem Ganzen
weht ein Geist der Unruhe und mit den Äußern Mitteln ist der Künstler so
verschwenderisch umgegangen, daß von einem überwältigenden Eindruck nicht
die Rede sein kann. Der Vordergrund des Thurmbaus ist von einer wunder¬
baren Schönheit, Gestalten, Bewegungen, alles vom reinsten künstlerischen
Adel durchdrungen; desto schwächer ist der eigentlich historische Theil behandelt;
und so macht das Gemälde trotz aller Symbolik doch nur den Eindruck eines
im großen Maßstabe ausgeführten Genrebildes. So verdient die Hunnen¬
schlacht in der Reihe dieser Werke unzweifelhaft die Krone und jeder Wohl¬
gesinnte wird wünschen, daß eS dem Meister, der trotz seiner Schwächen doch
immer zu den größten Erscheinungen unsrer Zeit gehört, gelingen möchte, für
die beiden noch leeren Plätze Eingebungen zu finden, die sich dieser
großen Composition an die Seite stellen können. Da wir uns einmal im
Treppenhause befinden, so wollen wir bei dieser Gelegenheit auch versuchen,
den Fries ins Auge zu fassen, obgleich, wie schon bemerkt, sehr starke Gläser
dazu gehören, ihn zu sehen. Die Leser der Grenzboten werden sich noch an einen
Aussatz erinnern, welcher eine heftige Polemik gegen einzelne Gruppen deS
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