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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Die Nähe so vollendeter Leistungen hat etwas Drückendes für die daneben
Stehenden, denn der unmittelbare Eindruck des Echten und Wahren ist "un¬
widerstehlich, und so geneigt man ist, dies hinzunehmen, als ob es sich nur
so von selbst verstehe, so empfindlich wird man dadurch gegen das'minder
Gelungene oder wol gar Verfehlte. Mitunter scheint es unbegreiflich, wie
nicht schon das Beispiel des Richtigen von offenbaren Verstößen abhielt, die
gegen Declamation und Accentuation, gegen reine und deutliche Aussprache
und ähnliche elementare Forderungen leider oft genug begangen wurden, vom
geistig beseelten Vortrag gar nicht zu reden; wenn nicht eben bei wirklich
künstlerischen Leistungen alles eng miteinander - zusammenhinge, und einem
großen Künstler etwas abzulernen künstlerische Durchbildung voraussetzte.

Verstöße der Art treffen natürlich Hrn. Schneider nicht, welcher sich
auch dies Mal als einen gebildeten Sänger bewährte, der mit Verstand und
Einsicht seine Partie durchdacht hatte und in ihrem Vortrag Sinn für das
Einfache und Edle.erfreulich an den Tag legte. Allein neben Stockhausen
empfand man doch, daß er seine schone Stimme nicht in dem Maße aus¬
gebildet hat, daß sie ihm in allen Nuancen völlig dienstbar ist; unter der
Anstrengung, welche er mitunter anwenden muß und die sich auch in seinem
Gesicht ausdrückt, leidet dann auch die Schönheit des Tons, der. ihm noch
nicht mit allen Klangfarben zu Gebote steht, um jeder Nuance des Gefühls
den bezeichnenden Ausdruck zu geben. Ich glaube, es liegt nur hieran, wenn
seinem Vortrag, der stets verständig überlegt und richtig aufgefaßt ist, doch mit¬
unter das tief Ergreifende und zugleich Leuchtende einer poetisch belebten
Darstellung .fehlt. Indessen glaube ich doch ein paar Mal bemerkt zu haben,
daß Hr. Schneider der Versuchung unterlag, um einen wohllautenden Ton
zur Geltung zu bringen, länger anzuhalten, als eigentlich nöthig und zweck¬
mäßig gewesen wäre; namentlich trat im bcethovenschen Liedcrkranz das un-
verhältnißmäßige Halten auf den Schlußtönen als jene nicht wohlthuende
Manier hervor, vor welcher ein Künstler, wie Hr. Schneider, auf seiner Hut
sein muß und wird, selbst wenn ein großer Theil des Publicums ihm dafür
zuklatscht. Ich hätte auch gewünscht, daß' er einigen Partien im Elias etwas
mehr Festigkeit gegeben hätte. Mendelssohn ist darin, z. B. in der ersten
Tenorarie bis an die Grenze des Weichen gegangen, und es ist sehr zu fürchten,
daß der Ausdruck, wenn der Sänger, der gegebenen Weisung nachgibt, weich¬
lich werde. Ueberhaupt haben die Tenorsänger sehr häusig fest im Auge zu
behalten, daß sie nicht einseitig den weichen und zarten Charakter ihrer Stimme
ausbilden, sondern auch männliche Kraft und-Würde derselben erhalten.

Hr. Dumont-Fluch, der die Baßpartie in Schumanns Adventslied und
in der neunten Symphonie übernommen hatte, ist ein Veteran aus der acht¬
baren, Schar deutscher Dilettanten, die mit lebhaftem musikalischen Interesse


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Die Nähe so vollendeter Leistungen hat etwas Drückendes für die daneben
Stehenden, denn der unmittelbare Eindruck des Echten und Wahren ist »un¬
widerstehlich, und so geneigt man ist, dies hinzunehmen, als ob es sich nur
so von selbst verstehe, so empfindlich wird man dadurch gegen das'minder
Gelungene oder wol gar Verfehlte. Mitunter scheint es unbegreiflich, wie
nicht schon das Beispiel des Richtigen von offenbaren Verstößen abhielt, die
gegen Declamation und Accentuation, gegen reine und deutliche Aussprache
und ähnliche elementare Forderungen leider oft genug begangen wurden, vom
geistig beseelten Vortrag gar nicht zu reden; wenn nicht eben bei wirklich
künstlerischen Leistungen alles eng miteinander - zusammenhinge, und einem
großen Künstler etwas abzulernen künstlerische Durchbildung voraussetzte.

Verstöße der Art treffen natürlich Hrn. Schneider nicht, welcher sich
auch dies Mal als einen gebildeten Sänger bewährte, der mit Verstand und
Einsicht seine Partie durchdacht hatte und in ihrem Vortrag Sinn für das
Einfache und Edle.erfreulich an den Tag legte. Allein neben Stockhausen
empfand man doch, daß er seine schone Stimme nicht in dem Maße aus¬
gebildet hat, daß sie ihm in allen Nuancen völlig dienstbar ist; unter der
Anstrengung, welche er mitunter anwenden muß und die sich auch in seinem
Gesicht ausdrückt, leidet dann auch die Schönheit des Tons, der. ihm noch
nicht mit allen Klangfarben zu Gebote steht, um jeder Nuance des Gefühls
den bezeichnenden Ausdruck zu geben. Ich glaube, es liegt nur hieran, wenn
seinem Vortrag, der stets verständig überlegt und richtig aufgefaßt ist, doch mit¬
unter das tief Ergreifende und zugleich Leuchtende einer poetisch belebten
Darstellung .fehlt. Indessen glaube ich doch ein paar Mal bemerkt zu haben,
daß Hr. Schneider der Versuchung unterlag, um einen wohllautenden Ton
zur Geltung zu bringen, länger anzuhalten, als eigentlich nöthig und zweck¬
mäßig gewesen wäre; namentlich trat im bcethovenschen Liedcrkranz das un-
verhältnißmäßige Halten auf den Schlußtönen als jene nicht wohlthuende
Manier hervor, vor welcher ein Künstler, wie Hr. Schneider, auf seiner Hut
sein muß und wird, selbst wenn ein großer Theil des Publicums ihm dafür
zuklatscht. Ich hätte auch gewünscht, daß' er einigen Partien im Elias etwas
mehr Festigkeit gegeben hätte. Mendelssohn ist darin, z. B. in der ersten
Tenorarie bis an die Grenze des Weichen gegangen, und es ist sehr zu fürchten,
daß der Ausdruck, wenn der Sänger, der gegebenen Weisung nachgibt, weich¬
lich werde. Ueberhaupt haben die Tenorsänger sehr häusig fest im Auge zu
behalten, daß sie nicht einseitig den weichen und zarten Charakter ihrer Stimme
ausbilden, sondern auch männliche Kraft und-Würde derselben erhalten.

Hr. Dumont-Fluch, der die Baßpartie in Schumanns Adventslied und
in der neunten Symphonie übernommen hatte, ist ein Veteran aus der acht¬
baren, Schar deutscher Dilettanten, die mit lebhaftem musikalischen Interesse


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[0499] Die Nähe so vollendeter Leistungen hat etwas Drückendes für die daneben Stehenden, denn der unmittelbare Eindruck des Echten und Wahren ist »un¬ widerstehlich, und so geneigt man ist, dies hinzunehmen, als ob es sich nur so von selbst verstehe, so empfindlich wird man dadurch gegen das'minder Gelungene oder wol gar Verfehlte. Mitunter scheint es unbegreiflich, wie nicht schon das Beispiel des Richtigen von offenbaren Verstößen abhielt, die gegen Declamation und Accentuation, gegen reine und deutliche Aussprache und ähnliche elementare Forderungen leider oft genug begangen wurden, vom geistig beseelten Vortrag gar nicht zu reden; wenn nicht eben bei wirklich künstlerischen Leistungen alles eng miteinander - zusammenhinge, und einem großen Künstler etwas abzulernen künstlerische Durchbildung voraussetzte. Verstöße der Art treffen natürlich Hrn. Schneider nicht, welcher sich auch dies Mal als einen gebildeten Sänger bewährte, der mit Verstand und Einsicht seine Partie durchdacht hatte und in ihrem Vortrag Sinn für das Einfache und Edle.erfreulich an den Tag legte. Allein neben Stockhausen empfand man doch, daß er seine schone Stimme nicht in dem Maße aus¬ gebildet hat, daß sie ihm in allen Nuancen völlig dienstbar ist; unter der Anstrengung, welche er mitunter anwenden muß und die sich auch in seinem Gesicht ausdrückt, leidet dann auch die Schönheit des Tons, der. ihm noch nicht mit allen Klangfarben zu Gebote steht, um jeder Nuance des Gefühls den bezeichnenden Ausdruck zu geben. Ich glaube, es liegt nur hieran, wenn seinem Vortrag, der stets verständig überlegt und richtig aufgefaßt ist, doch mit¬ unter das tief Ergreifende und zugleich Leuchtende einer poetisch belebten Darstellung .fehlt. Indessen glaube ich doch ein paar Mal bemerkt zu haben, daß Hr. Schneider der Versuchung unterlag, um einen wohllautenden Ton zur Geltung zu bringen, länger anzuhalten, als eigentlich nöthig und zweck¬ mäßig gewesen wäre; namentlich trat im bcethovenschen Liedcrkranz das un- verhältnißmäßige Halten auf den Schlußtönen als jene nicht wohlthuende Manier hervor, vor welcher ein Künstler, wie Hr. Schneider, auf seiner Hut sein muß und wird, selbst wenn ein großer Theil des Publicums ihm dafür zuklatscht. Ich hätte auch gewünscht, daß' er einigen Partien im Elias etwas mehr Festigkeit gegeben hätte. Mendelssohn ist darin, z. B. in der ersten Tenorarie bis an die Grenze des Weichen gegangen, und es ist sehr zu fürchten, daß der Ausdruck, wenn der Sänger, der gegebenen Weisung nachgibt, weich¬ lich werde. Ueberhaupt haben die Tenorsänger sehr häusig fest im Auge zu behalten, daß sie nicht einseitig den weichen und zarten Charakter ihrer Stimme ausbilden, sondern auch männliche Kraft und-Würde derselben erhalten. Hr. Dumont-Fluch, der die Baßpartie in Schumanns Adventslied und in der neunten Symphonie übernommen hatte, ist ein Veteran aus der acht¬ baren, Schar deutscher Dilettanten, die mit lebhaftem musikalischen Interesse 62 '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/499>, abgerufen am 21.06.2024.