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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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centration außerordentlicher Kräfte hervorzurufen sind. Man muß den Chor
ins Auge fassen, der aus Abgeordneten von Gesangvereinen vieler Ortschaften
gebildet ist und eben diese Vereine, welche oft sehr zufällig vertreten sind,
hinter sich hat, so wie daS Orchester, das aus eine ähnliche Weise gebildet wird,
um sich zu vergegenwärtigen, welche Summe von musikalischer Kraft und Bil¬
dung im, Volk dadurch repräsentirt wird. Und wenn man dann wahrnimmt,
in welcher Weise ein Kunstwerk wie Beethovens neunte Symphonie von einem
solchen Chor und Orchester ausgeführt, in welcher Weise eS von einem
ebenso gemischten Publicum aufgenommen wird, so wird man inne, daß die
höchsten Leistungen unsrer größten Künstler in Wahrheit diese Wurzeln im
Volk geschlagen haben und der Nation angehören. Lassen Sie uns, mein
theurer Freund/auch an dieser Aeußerung eines nationalen Gefühls u"ö er¬
freuen, wenn es gleich dem idealen Gebiet des künstlerischen Empfindens und
Verstehens angehört. Gar wenige mögen das Gefühl des Einigseins und Zu-
sammengehörens beim wahren Genuß deutscher Musik als ein patriotisches
empfinden, desto besser! um so unbefangener und gesunder wird es als ein Factor
eines lebendigen Nationalgefühls überhaupt mitwirken.

Es war keine geringe Aufgabe, zwei Jahre hintereinander an demselben
Ort ein Musikfest zu Stande zu bringen, und der überaus glänzende Erfolg des
vorjährigen Festes war eher geeignet, diese Aufgabe zu erschweren. Der noch
nicht vollendete Ausbau des Gürzenich machte es unmöglich, das Fest in Köln
zu feiern; um nicht etwa gar eine Unterbrechung eintreten zu lassen, entschloß
man sich/in Düsseldorf zu einer Wiederholung, und durch bie Energie und
Umsicht des Comites und insbesondere des Herrn Hera. Voß gelang es
bald, die materiellen Voraussetzungen des Zustandekommens zu sichern. An der
Bereitwilligkeit der verschiedenen Gesangvereine, zahlreich mitzuwirken, war nicht
zu zweifeln; das Verzeichnis) der Mitwirkenden weist dies Mal in allen Stimmen
größere Zahlen aus: im Sopran 183 (statt 167), im Alt 140 (statt 123), im
Tenor 168 (statt 138), im Baß 237 (statt 204), im Ganzen also 780 Choristen,
während im vorigen Jahr deren 634 gewesen waren. Daß diese numerische Ver¬
stärkung von keiner großen Wirkung sein würde, ließ sich annehmen; es scheint
aber, als wenn von den angemeldeten Choristen eine beträchtliche Anzahl aus¬
geblieben sei, so daß die Zahl der wirklich Mitsingenden vielleicht geringer war; in
der That schien auch die Wirkung des Chors nicht ganz von der Macht und
Fülle zusein, wie im vorigen Jahr. Etwas mochte dazu wol beitragen, daß die
Schöpfung in seltener Weise geeignet ist, den Chor auf die mannigfaltigste
Art zur vollsten Geltung zu bringen. Allein auch ein solcher Rückblick that den
Leistungen des Chors in diesem Jahr keinen eigentlichen Schaden; er war durch¬
aus kräftig, gesund und frisch und hatte sich dessen bemeistert, was er vor¬
zutragen hatte.


centration außerordentlicher Kräfte hervorzurufen sind. Man muß den Chor
ins Auge fassen, der aus Abgeordneten von Gesangvereinen vieler Ortschaften
gebildet ist und eben diese Vereine, welche oft sehr zufällig vertreten sind,
hinter sich hat, so wie daS Orchester, das aus eine ähnliche Weise gebildet wird,
um sich zu vergegenwärtigen, welche Summe von musikalischer Kraft und Bil¬
dung im, Volk dadurch repräsentirt wird. Und wenn man dann wahrnimmt,
in welcher Weise ein Kunstwerk wie Beethovens neunte Symphonie von einem
solchen Chor und Orchester ausgeführt, in welcher Weise eS von einem
ebenso gemischten Publicum aufgenommen wird, so wird man inne, daß die
höchsten Leistungen unsrer größten Künstler in Wahrheit diese Wurzeln im
Volk geschlagen haben und der Nation angehören. Lassen Sie uns, mein
theurer Freund/auch an dieser Aeußerung eines nationalen Gefühls u»ö er¬
freuen, wenn es gleich dem idealen Gebiet des künstlerischen Empfindens und
Verstehens angehört. Gar wenige mögen das Gefühl des Einigseins und Zu-
sammengehörens beim wahren Genuß deutscher Musik als ein patriotisches
empfinden, desto besser! um so unbefangener und gesunder wird es als ein Factor
eines lebendigen Nationalgefühls überhaupt mitwirken.

Es war keine geringe Aufgabe, zwei Jahre hintereinander an demselben
Ort ein Musikfest zu Stande zu bringen, und der überaus glänzende Erfolg des
vorjährigen Festes war eher geeignet, diese Aufgabe zu erschweren. Der noch
nicht vollendete Ausbau des Gürzenich machte es unmöglich, das Fest in Köln
zu feiern; um nicht etwa gar eine Unterbrechung eintreten zu lassen, entschloß
man sich/in Düsseldorf zu einer Wiederholung, und durch bie Energie und
Umsicht des Comites und insbesondere des Herrn Hera. Voß gelang es
bald, die materiellen Voraussetzungen des Zustandekommens zu sichern. An der
Bereitwilligkeit der verschiedenen Gesangvereine, zahlreich mitzuwirken, war nicht
zu zweifeln; das Verzeichnis) der Mitwirkenden weist dies Mal in allen Stimmen
größere Zahlen aus: im Sopran 183 (statt 167), im Alt 140 (statt 123), im
Tenor 168 (statt 138), im Baß 237 (statt 204), im Ganzen also 780 Choristen,
während im vorigen Jahr deren 634 gewesen waren. Daß diese numerische Ver¬
stärkung von keiner großen Wirkung sein würde, ließ sich annehmen; es scheint
aber, als wenn von den angemeldeten Choristen eine beträchtliche Anzahl aus¬
geblieben sei, so daß die Zahl der wirklich Mitsingenden vielleicht geringer war; in
der That schien auch die Wirkung des Chors nicht ganz von der Macht und
Fülle zusein, wie im vorigen Jahr. Etwas mochte dazu wol beitragen, daß die
Schöpfung in seltener Weise geeignet ist, den Chor auf die mannigfaltigste
Art zur vollsten Geltung zu bringen. Allein auch ein solcher Rückblick that den
Leistungen des Chors in diesem Jahr keinen eigentlichen Schaden; er war durch¬
aus kräftig, gesund und frisch und hatte sich dessen bemeistert, was er vor¬
zutragen hatte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/490>, abgerufen am 21.06.2024.