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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Liegt aber der Werth einer Vorstellung besonders in der Abrundung des
Ganzen, in dem Verständniß, das durch das gesammte Stück geht, und das
Zusanuucnspiel wie ein belebender Hauch erfrischt, so muß man anerkennen,
daß all diesen Anforderungen ein Gastspiel gradezu widerspricht. Nichts hemmt
und stört gewöhnlich das Zusammenspiel eines Abends mehr, als ein Gast,
und je bedeutender dieser erscheint, um so mehr tritt jener Uebelstand zu Tage.
Gewiß, der Gast mag großartige, hinreißende Momente bieten, allein das
Ganze -- somit das Wichtigste -- zerfällt in sich. Oder will man den Total-
eindruck zu Gunsten eines Einzelnen hintansetzen? Dann freilich dürfte der
bildende Künstler sich auch darauf beschränken, nur einen kleinen Theil seiner
Figur im Detail zu bearbeiten, das Ganze und Große aber nur im Rohen
anzudeuten.

Doch das sind ja anerkannte Grundsätze. > Weit mehr fragt es sich hier,
oh es überhaupt möglich erscheint, daß ein Künstler sich selbst und seiner Kunst
Würdiges auf seinen Kunstreisen leisten kann? Uns erscheint dies zum
wenigsten sehr schwierig. Der Gegenbeweis mag freilich sehr leicht erscheinen,
indem man uns nur auf den Enthusiasmus der Menge, auf den Beifall selbst
des gebildeteren Publicums hinweist. Und dennoch ist das so gut, wie nichts
bewiesen. Wer da weiß, wie sehr sich -- sei es durch die vorgefaßte Meinung
von der Trefflichkeit des Gaste's, oder sei es durch Vorliebe sür das auszu¬
führende Stück im Theater selbst die Feingebildelen vorweg einnehmen lassen,
der wird auch wissen, was jener Beifall zu bedeuten hat. Niemand aber, der
den Gast so hoch erhebt, mag ihn in seiner Heimath d. h. in seiner gewohnten,
heimischen Gesellschaft gesehen oder doch genauer beobachtet haben. Hat man
das aber, so wird man meist sehr leicht eine Veränderung des Spiels bemerken,
die nicht grade zum Vortheil des Künstlers sich zeigen mag. Wie kann das
auch anders sein? Unsre Künstler gehen jetzt ein Drittheil des Jahres ans
' Gastspielreisen; sie versorgen sich dasür mit einem Chkluö von einem halben
Dutzend Rollen, die sie nun wöchentlich und an den verschiedensten Orten
herabspielen.

Wer möchte, wenn er das überlegt, noch an Begeisterung bei ihnen glau¬
ben? Wer ist da noch überzeugt, daß der Schauspieler, der wöchentlich wenig¬
stens einmal als Hamlet überlegt "ob sein oder nicht sein" -- wirklich noch
das lebendige Gefühl, die innere Erregung besitze, oder wer wird nicht vielmehr
an den Staarmatz und seine Kunststücke erinnert? Beschränkte sich das Uebel
aber nur auf den bloßen Mangel des Gefühls , so wäre es wenigstens nicht
schlimmer als gewöhnlich, wo man sich auch ost vergebens nach etwas Gefühl,
wie nach einer Oase in der Wüste sehnt. Doch nur zu leicht tritt beim Gast¬
spiel sür diesen ebenerwähnren Mangel ein schlimmer Ersatz ein, der groß^
Feind wahrer Kunst -- Esscclhascherei. Solches Coulissenreißen wird um I"


Liegt aber der Werth einer Vorstellung besonders in der Abrundung des
Ganzen, in dem Verständniß, das durch das gesammte Stück geht, und das
Zusanuucnspiel wie ein belebender Hauch erfrischt, so muß man anerkennen,
daß all diesen Anforderungen ein Gastspiel gradezu widerspricht. Nichts hemmt
und stört gewöhnlich das Zusammenspiel eines Abends mehr, als ein Gast,
und je bedeutender dieser erscheint, um so mehr tritt jener Uebelstand zu Tage.
Gewiß, der Gast mag großartige, hinreißende Momente bieten, allein das
Ganze — somit das Wichtigste — zerfällt in sich. Oder will man den Total-
eindruck zu Gunsten eines Einzelnen hintansetzen? Dann freilich dürfte der
bildende Künstler sich auch darauf beschränken, nur einen kleinen Theil seiner
Figur im Detail zu bearbeiten, das Ganze und Große aber nur im Rohen
anzudeuten.

Doch das sind ja anerkannte Grundsätze. > Weit mehr fragt es sich hier,
oh es überhaupt möglich erscheint, daß ein Künstler sich selbst und seiner Kunst
Würdiges auf seinen Kunstreisen leisten kann? Uns erscheint dies zum
wenigsten sehr schwierig. Der Gegenbeweis mag freilich sehr leicht erscheinen,
indem man uns nur auf den Enthusiasmus der Menge, auf den Beifall selbst
des gebildeteren Publicums hinweist. Und dennoch ist das so gut, wie nichts
bewiesen. Wer da weiß, wie sehr sich — sei es durch die vorgefaßte Meinung
von der Trefflichkeit des Gaste's, oder sei es durch Vorliebe sür das auszu¬
führende Stück im Theater selbst die Feingebildelen vorweg einnehmen lassen,
der wird auch wissen, was jener Beifall zu bedeuten hat. Niemand aber, der
den Gast so hoch erhebt, mag ihn in seiner Heimath d. h. in seiner gewohnten,
heimischen Gesellschaft gesehen oder doch genauer beobachtet haben. Hat man
das aber, so wird man meist sehr leicht eine Veränderung des Spiels bemerken,
die nicht grade zum Vortheil des Künstlers sich zeigen mag. Wie kann das
auch anders sein? Unsre Künstler gehen jetzt ein Drittheil des Jahres ans
' Gastspielreisen; sie versorgen sich dasür mit einem Chkluö von einem halben
Dutzend Rollen, die sie nun wöchentlich und an den verschiedensten Orten
herabspielen.

Wer möchte, wenn er das überlegt, noch an Begeisterung bei ihnen glau¬
ben? Wer ist da noch überzeugt, daß der Schauspieler, der wöchentlich wenig¬
stens einmal als Hamlet überlegt „ob sein oder nicht sein" — wirklich noch
das lebendige Gefühl, die innere Erregung besitze, oder wer wird nicht vielmehr
an den Staarmatz und seine Kunststücke erinnert? Beschränkte sich das Uebel
aber nur auf den bloßen Mangel des Gefühls , so wäre es wenigstens nicht
schlimmer als gewöhnlich, wo man sich auch ost vergebens nach etwas Gefühl,
wie nach einer Oase in der Wüste sehnt. Doch nur zu leicht tritt beim Gast¬
spiel sür diesen ebenerwähnren Mangel ein schlimmer Ersatz ein, der groß^
Feind wahrer Kunst — Esscclhascherei. Solches Coulissenreißen wird um I"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/472>, abgerufen am 21.06.2024.