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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Reisende sprechen von der erhabenen Pracht des Wassersturzes des
Niagara, wo jede Minute Tausende von Tonnen des flüssigen Elements sich
in einer einzigen, Staunen und Grausen erweckenden Flut in die Tiefe er¬
gießen. Aber,was ist dieses Naturschauspiel gegen die ungeheure Menschen-
flut, gegen den wunderbaren Lebcnssttom von tausend und abertausend rastlo¬
sen Seelen, die, jede von einem andern Antriebe bewegt, jede von andern
Zwecken vorwärts gedrängt, durch jene großen Straßen wogen! Was ist die
gesammte Gewalt des größten Wasserfalls der Welt gegen, die vereinte Macht
der verschiedenen Gedanken und Willenskräfte, welche die Atome, aus denen
dieser Menschenstrom zusammengesetzt ist, nach ihren Zielen treiben! Und wenn
das Gebrüll der thalabwärts donnernden Wasser das Gemüth schreckt und
beängstigt, so wird.die Seele dessen, der den Lärm und das Getöse des lon¬
doner Straßenlebens zum ersten Male hört, nicht weniger davon ergriffen
und verstört.

Es gibt in der That nirgends einen Anblick, der an Unermeßlichkeit der.
Rastlosigkeit des Dichtens und Trachtens auf den londoner Straßen gleich käme.
Können die Massen der Pyramiden dem Genujth ein solch überwältigendes
Gefühl von aufgewendeter Arbeitskraft und ewiger Dauer einflößen, als es
sich bei Betrachtung der nie endenden, nie ermüdenden Thätigkeit der Menschen-,
massen in diesen Straßen ihm aufdrängt? Wenn die Wüste in der Empfindung
unendlicher Vereinsamung, die sie hervorruft, den Gipfel des Erhabenen aus¬
prägt, so ist diese gigantische Stadt nicht weniger erhaben, wenn auch aus dem
entgegengesetzten Grunde. Wir finden uns umgeben von zahllosen Menschen
und fühlen uns doch vergleichsweise, wo nicht völlig, einsam und freundlos in
Mitten dieser unendlichen Menge.

Es ist noch manches Bewundernswerthe an London zu nennen. Die
großen Zeitungsbureaur, wo es möglich ist, täglich Blätter auszugeben, welche
so viel Stoff als ein Buch enthalten, die ungeheuren Brauereien, welche förm¬
liche Stadttheile bilden, sind sicherlich sehenowerth. Aber was sind sie und
was alle andere Merkwürdigkeiten Londons gegen den Anblick der Straßen,
namentlich in den späteren Nachmittagsstunden. Dann drängen sich die Men¬
schen in den Haupldurchfahrlen Meile auf Mene gleich- einer Herde von
Schafen in einer engen Heckengasse, und Fuhrwerke, gestopft voll Passagiere
fahren, dicht hinter- und nebeneinander wie die Steine des Pflasters unter
ihnen, im langen Zuge zu Tausenden dahin. Ueberall, wohin man blickt, zeigt
sich dieselbe schwarze Menschenmasse, und so weil man vor Einbruch der Nacht
wandern kann, allenthalben dasselbe dichte Gewühl. Fürwahr nnter allen
Wundern der Welt gleicht an Wirkung auf das Gemüth keines diesem Kreis¬
lauf des Lebens durch die Adern der Themsestadt.

Ein Blick auf die Einzeln heile" des Verkehrs -in diesen Straßen wird das


Reisende sprechen von der erhabenen Pracht des Wassersturzes des
Niagara, wo jede Minute Tausende von Tonnen des flüssigen Elements sich
in einer einzigen, Staunen und Grausen erweckenden Flut in die Tiefe er¬
gießen. Aber,was ist dieses Naturschauspiel gegen die ungeheure Menschen-
flut, gegen den wunderbaren Lebcnssttom von tausend und abertausend rastlo¬
sen Seelen, die, jede von einem andern Antriebe bewegt, jede von andern
Zwecken vorwärts gedrängt, durch jene großen Straßen wogen! Was ist die
gesammte Gewalt des größten Wasserfalls der Welt gegen, die vereinte Macht
der verschiedenen Gedanken und Willenskräfte, welche die Atome, aus denen
dieser Menschenstrom zusammengesetzt ist, nach ihren Zielen treiben! Und wenn
das Gebrüll der thalabwärts donnernden Wasser das Gemüth schreckt und
beängstigt, so wird.die Seele dessen, der den Lärm und das Getöse des lon¬
doner Straßenlebens zum ersten Male hört, nicht weniger davon ergriffen
und verstört.

Es gibt in der That nirgends einen Anblick, der an Unermeßlichkeit der.
Rastlosigkeit des Dichtens und Trachtens auf den londoner Straßen gleich käme.
Können die Massen der Pyramiden dem Genujth ein solch überwältigendes
Gefühl von aufgewendeter Arbeitskraft und ewiger Dauer einflößen, als es
sich bei Betrachtung der nie endenden, nie ermüdenden Thätigkeit der Menschen-,
massen in diesen Straßen ihm aufdrängt? Wenn die Wüste in der Empfindung
unendlicher Vereinsamung, die sie hervorruft, den Gipfel des Erhabenen aus¬
prägt, so ist diese gigantische Stadt nicht weniger erhaben, wenn auch aus dem
entgegengesetzten Grunde. Wir finden uns umgeben von zahllosen Menschen
und fühlen uns doch vergleichsweise, wo nicht völlig, einsam und freundlos in
Mitten dieser unendlichen Menge.

Es ist noch manches Bewundernswerthe an London zu nennen. Die
großen Zeitungsbureaur, wo es möglich ist, täglich Blätter auszugeben, welche
so viel Stoff als ein Buch enthalten, die ungeheuren Brauereien, welche förm¬
liche Stadttheile bilden, sind sicherlich sehenowerth. Aber was sind sie und
was alle andere Merkwürdigkeiten Londons gegen den Anblick der Straßen,
namentlich in den späteren Nachmittagsstunden. Dann drängen sich die Men¬
schen in den Haupldurchfahrlen Meile auf Mene gleich- einer Herde von
Schafen in einer engen Heckengasse, und Fuhrwerke, gestopft voll Passagiere
fahren, dicht hinter- und nebeneinander wie die Steine des Pflasters unter
ihnen, im langen Zuge zu Tausenden dahin. Ueberall, wohin man blickt, zeigt
sich dieselbe schwarze Menschenmasse, und so weil man vor Einbruch der Nacht
wandern kann, allenthalben dasselbe dichte Gewühl. Fürwahr nnter allen
Wundern der Welt gleicht an Wirkung auf das Gemüth keines diesem Kreis¬
lauf des Lebens durch die Adern der Themsestadt.

Ein Blick auf die Einzeln heile» des Verkehrs -in diesen Straßen wird das


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[0450] Reisende sprechen von der erhabenen Pracht des Wassersturzes des Niagara, wo jede Minute Tausende von Tonnen des flüssigen Elements sich in einer einzigen, Staunen und Grausen erweckenden Flut in die Tiefe er¬ gießen. Aber,was ist dieses Naturschauspiel gegen die ungeheure Menschen- flut, gegen den wunderbaren Lebcnssttom von tausend und abertausend rastlo¬ sen Seelen, die, jede von einem andern Antriebe bewegt, jede von andern Zwecken vorwärts gedrängt, durch jene großen Straßen wogen! Was ist die gesammte Gewalt des größten Wasserfalls der Welt gegen, die vereinte Macht der verschiedenen Gedanken und Willenskräfte, welche die Atome, aus denen dieser Menschenstrom zusammengesetzt ist, nach ihren Zielen treiben! Und wenn das Gebrüll der thalabwärts donnernden Wasser das Gemüth schreckt und beängstigt, so wird.die Seele dessen, der den Lärm und das Getöse des lon¬ doner Straßenlebens zum ersten Male hört, nicht weniger davon ergriffen und verstört. Es gibt in der That nirgends einen Anblick, der an Unermeßlichkeit der. Rastlosigkeit des Dichtens und Trachtens auf den londoner Straßen gleich käme. Können die Massen der Pyramiden dem Genujth ein solch überwältigendes Gefühl von aufgewendeter Arbeitskraft und ewiger Dauer einflößen, als es sich bei Betrachtung der nie endenden, nie ermüdenden Thätigkeit der Menschen-, massen in diesen Straßen ihm aufdrängt? Wenn die Wüste in der Empfindung unendlicher Vereinsamung, die sie hervorruft, den Gipfel des Erhabenen aus¬ prägt, so ist diese gigantische Stadt nicht weniger erhaben, wenn auch aus dem entgegengesetzten Grunde. Wir finden uns umgeben von zahllosen Menschen und fühlen uns doch vergleichsweise, wo nicht völlig, einsam und freundlos in Mitten dieser unendlichen Menge. Es ist noch manches Bewundernswerthe an London zu nennen. Die großen Zeitungsbureaur, wo es möglich ist, täglich Blätter auszugeben, welche so viel Stoff als ein Buch enthalten, die ungeheuren Brauereien, welche förm¬ liche Stadttheile bilden, sind sicherlich sehenowerth. Aber was sind sie und was alle andere Merkwürdigkeiten Londons gegen den Anblick der Straßen, namentlich in den späteren Nachmittagsstunden. Dann drängen sich die Men¬ schen in den Haupldurchfahrlen Meile auf Mene gleich- einer Herde von Schafen in einer engen Heckengasse, und Fuhrwerke, gestopft voll Passagiere fahren, dicht hinter- und nebeneinander wie die Steine des Pflasters unter ihnen, im langen Zuge zu Tausenden dahin. Ueberall, wohin man blickt, zeigt sich dieselbe schwarze Menschenmasse, und so weil man vor Einbruch der Nacht wandern kann, allenthalben dasselbe dichte Gewühl. Fürwahr nnter allen Wundern der Welt gleicht an Wirkung auf das Gemüth keines diesem Kreis¬ lauf des Lebens durch die Adern der Themsestadt. Ein Blick auf die Einzeln heile» des Verkehrs -in diesen Straßen wird das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/450>, abgerufen am 27.06.2024.