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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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der Masse schließen, welche die gesammte Einwohnerschaft Londons bilden würde,
falls sie je zusammengebracht werden könnte.

Man rechnete heraus, daß damals ungefähr anderthalb Millionen
Menschen beisammen waren, um der Feierlichkeit beizuwohnen, und daß diese
die Trottoirs aus eine Strecke von drei Meilen bedeckten. Daraus folgt, daß
die Einwohner Londons, wenn sie zu gleicher Zeit in den Straßen erschienen,
eine dichte Masse menschlicher Wesen von etwa fünf englischen Meilen Länge
bilden würden.

Oder, um die Sache noch anschaulicher zu machen, man kann sagen,
wenn die gesammte Bevölkerung Londons, militärisch geordnet, paarweise auf¬
gestellt würde, so müßte die Länge dieser großen Armee von Londoner"
670 Meilen lang sein, und sie würde, vorausgesetzt, daß sie sich mit einer
Schnelligkeit von drei Meilen in der Stunde fortbewegte, neun Tage und
neun Nächte bedürfen, um an dem, der über sie Heerschau hielte, vorbei zu
defiliren. ^

London ist wesentlich eine Stadt der Contraste d. l). eine Stadt, wo die
'Extreme der gesellschaftlichen Zustände sich dem Beobachter mit größerer Ge¬
walt aufdrängen als anderwärts. Ueberfluß und Maugel, Pracht und Schmuz,
Hunger und Obdachlosigkeit treten hier in schävfern Umrissen hervor, als in
irgend einer andern Stadt der Welt. DaS Elend der Armen, die Masse der
Bettler und Diebe ist anderswo zur Genüge geschildert worden, und wir heben
deshalb aus Mayhewö Mittheilungen nur noch einiges, von der lichten Seite
hervor.

Das englische Landvolk sagt, die Straßen Londons seien mit Gold ge¬
pflastert, und es hat damit nur die Möglichkeit sür die Wirklichkeit genommen.
Denn saßt man den ungefähren Geldbesitz der Stadt zusammen, so dürfte sich
damit leicht die ganze Fläche deö Pflasters der 1730 Meilen langen Straßen
bedecken lassen. Aber noch mehr, das wirkliche Pflaster der Straßen kostet
nicht weniger als vierzehn Millionen Pfund, und die Ausgaben für die An¬
legung einer Straße berragen pro Meile 8000 Pfund, so daß wahrlich die
bloßen Steine beinahe wie Goldklumpen zu rechnen sind.

Sodann aber sind die unter der Oberfläche liegenden Meichthümer nicht
weniger ungeheuer. Denn unter diesen selben Pflastersteinen von London er¬
strecken sich Gasröhren von 1900 Meilen Länge hin und außerdem Wasser¬
röhren von gleicher Länge. Kosteten diese auch nur einen Schilling der Fuß,
so würde das schon fast eine halbe Million Pfund geben. Endlich aber dürfen
jene unterirdischen Tunnel der Schleußen, jene ziegelsteinernen Eingeweide der
Riesenstadt nicht unbeachtet bleiben, die sich ebenfalls unter dem Pflaster der
Stadt einige hundert Meilen hinstrecken und ungeheure Summen kosten. Man
sollte fast meinen, baß eS in London keine Armuth geben könne, wenn man die


der Masse schließen, welche die gesammte Einwohnerschaft Londons bilden würde,
falls sie je zusammengebracht werden könnte.

Man rechnete heraus, daß damals ungefähr anderthalb Millionen
Menschen beisammen waren, um der Feierlichkeit beizuwohnen, und daß diese
die Trottoirs aus eine Strecke von drei Meilen bedeckten. Daraus folgt, daß
die Einwohner Londons, wenn sie zu gleicher Zeit in den Straßen erschienen,
eine dichte Masse menschlicher Wesen von etwa fünf englischen Meilen Länge
bilden würden.

Oder, um die Sache noch anschaulicher zu machen, man kann sagen,
wenn die gesammte Bevölkerung Londons, militärisch geordnet, paarweise auf¬
gestellt würde, so müßte die Länge dieser großen Armee von Londoner»
670 Meilen lang sein, und sie würde, vorausgesetzt, daß sie sich mit einer
Schnelligkeit von drei Meilen in der Stunde fortbewegte, neun Tage und
neun Nächte bedürfen, um an dem, der über sie Heerschau hielte, vorbei zu
defiliren. ^

London ist wesentlich eine Stadt der Contraste d. l). eine Stadt, wo die
'Extreme der gesellschaftlichen Zustände sich dem Beobachter mit größerer Ge¬
walt aufdrängen als anderwärts. Ueberfluß und Maugel, Pracht und Schmuz,
Hunger und Obdachlosigkeit treten hier in schävfern Umrissen hervor, als in
irgend einer andern Stadt der Welt. DaS Elend der Armen, die Masse der
Bettler und Diebe ist anderswo zur Genüge geschildert worden, und wir heben
deshalb aus Mayhewö Mittheilungen nur noch einiges, von der lichten Seite
hervor.

Das englische Landvolk sagt, die Straßen Londons seien mit Gold ge¬
pflastert, und es hat damit nur die Möglichkeit sür die Wirklichkeit genommen.
Denn saßt man den ungefähren Geldbesitz der Stadt zusammen, so dürfte sich
damit leicht die ganze Fläche deö Pflasters der 1730 Meilen langen Straßen
bedecken lassen. Aber noch mehr, das wirkliche Pflaster der Straßen kostet
nicht weniger als vierzehn Millionen Pfund, und die Ausgaben für die An¬
legung einer Straße berragen pro Meile 8000 Pfund, so daß wahrlich die
bloßen Steine beinahe wie Goldklumpen zu rechnen sind.

Sodann aber sind die unter der Oberfläche liegenden Meichthümer nicht
weniger ungeheuer. Denn unter diesen selben Pflastersteinen von London er¬
strecken sich Gasröhren von 1900 Meilen Länge hin und außerdem Wasser¬
röhren von gleicher Länge. Kosteten diese auch nur einen Schilling der Fuß,
so würde das schon fast eine halbe Million Pfund geben. Endlich aber dürfen
jene unterirdischen Tunnel der Schleußen, jene ziegelsteinernen Eingeweide der
Riesenstadt nicht unbeachtet bleiben, die sich ebenfalls unter dem Pflaster der
Stadt einige hundert Meilen hinstrecken und ungeheure Summen kosten. Man
sollte fast meinen, baß eS in London keine Armuth geben könne, wenn man die


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[0426] der Masse schließen, welche die gesammte Einwohnerschaft Londons bilden würde, falls sie je zusammengebracht werden könnte. Man rechnete heraus, daß damals ungefähr anderthalb Millionen Menschen beisammen waren, um der Feierlichkeit beizuwohnen, und daß diese die Trottoirs aus eine Strecke von drei Meilen bedeckten. Daraus folgt, daß die Einwohner Londons, wenn sie zu gleicher Zeit in den Straßen erschienen, eine dichte Masse menschlicher Wesen von etwa fünf englischen Meilen Länge bilden würden. Oder, um die Sache noch anschaulicher zu machen, man kann sagen, wenn die gesammte Bevölkerung Londons, militärisch geordnet, paarweise auf¬ gestellt würde, so müßte die Länge dieser großen Armee von Londoner» 670 Meilen lang sein, und sie würde, vorausgesetzt, daß sie sich mit einer Schnelligkeit von drei Meilen in der Stunde fortbewegte, neun Tage und neun Nächte bedürfen, um an dem, der über sie Heerschau hielte, vorbei zu defiliren. ^ London ist wesentlich eine Stadt der Contraste d. l). eine Stadt, wo die 'Extreme der gesellschaftlichen Zustände sich dem Beobachter mit größerer Ge¬ walt aufdrängen als anderwärts. Ueberfluß und Maugel, Pracht und Schmuz, Hunger und Obdachlosigkeit treten hier in schävfern Umrissen hervor, als in irgend einer andern Stadt der Welt. DaS Elend der Armen, die Masse der Bettler und Diebe ist anderswo zur Genüge geschildert worden, und wir heben deshalb aus Mayhewö Mittheilungen nur noch einiges, von der lichten Seite hervor. Das englische Landvolk sagt, die Straßen Londons seien mit Gold ge¬ pflastert, und es hat damit nur die Möglichkeit sür die Wirklichkeit genommen. Denn saßt man den ungefähren Geldbesitz der Stadt zusammen, so dürfte sich damit leicht die ganze Fläche deö Pflasters der 1730 Meilen langen Straßen bedecken lassen. Aber noch mehr, das wirkliche Pflaster der Straßen kostet nicht weniger als vierzehn Millionen Pfund, und die Ausgaben für die An¬ legung einer Straße berragen pro Meile 8000 Pfund, so daß wahrlich die bloßen Steine beinahe wie Goldklumpen zu rechnen sind. Sodann aber sind die unter der Oberfläche liegenden Meichthümer nicht weniger ungeheuer. Denn unter diesen selben Pflastersteinen von London er¬ strecken sich Gasröhren von 1900 Meilen Länge hin und außerdem Wasser¬ röhren von gleicher Länge. Kosteten diese auch nur einen Schilling der Fuß, so würde das schon fast eine halbe Million Pfund geben. Endlich aber dürfen jene unterirdischen Tunnel der Schleußen, jene ziegelsteinernen Eingeweide der Riesenstadt nicht unbeachtet bleiben, die sich ebenfalls unter dem Pflaster der Stadt einige hundert Meilen hinstrecken und ungeheure Summen kosten. Man sollte fast meinen, baß eS in London keine Armuth geben könne, wenn man die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/426>, abgerufen am 05.07.2024.